Ärzteschaft
Gesundheitsdatenraum: Zwischen Erschwernis und Erleichterung
Dienstag, 28. März 2023
Berlin – Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, hat vor einer Schwächung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient durch die Einführung des Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS) gewarnt. Es müsse höchster Wert auf die Datenhoheit der Patienten gelegt werden, erklärte er heute in Brüssel gegenüber Vertretern der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments.
Die Ausgestaltung des EHDS kommt in Fahrt: Die EU-Kommission will das Vorhaben noch dieses Jahr abhaken. Entsprechend treten grundsätzliche Fragen und Detailregelungen auch in der Ärzteschaft in den Vordergrund. „Wenn mich heute eine Patientin fragt, ob ich ihre Gesundheitsinformationen geheim halten kann, ist die Antwort einfach: ja“, erklärte Reinhardt.
Ob das auch in Zukunft so sein werde, sei nun die Frage – speziell mit Blick auf die vorgesehenen Regelungen zur Weitergabe und Nutzung von Gesundheitsdaten. Er könne die Sorge von Patientinnen und Patienten verstehen, wenn sie erfahren würden, dass die Daten aus ihrer elektronischen Patientenakte (ePA) geteilt werden könnten.
„Ich denke, wir sind uns einig, dass es der Worst-Case wäre, wenn Patienten deshalb Angst davor haben, die Hilfe eines Arztes suchen“, sagte Reinhardt. Leitfaden müsse deshalb die Deklaration von Taipeh sein, die der Weltärztebund 2016 verabschiedet habe.
Sie definiert nicht nur die Zustimmung der Patienten als Voraussetzung für eine Nutzung ihrer Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken, sondern auch deren Berechtigung, Informationen zu ihren Gesundheitsdaten und deren Nutzung zu erhalten sowie ihre Einwilligung zurückzuziehen und die Löschung ihrer Daten zu veranlassen.
„Diese Worte sind heute relevanter denn je“, betonte Reinhardt. Allerdings komme auch der technischen Umsetzung entscheidende Bedeutung zu. „Vertrauen und Akzeptanz benötigen auch eine Implementierung der richtigen technischen Mittel.“
So müsse einerseits auch eine hinreichende Datensicherheit gegeben sein – die größte Gefahr gehe schließlich nicht von der Forschung aus, sondern von missbräuchlicher Verwendung der Daten zu kommerziellen, administrativen oder politischen Zwecken.
Reinhardts Bedenken versuchte Martin Dorazil zu zerstreuen, Leiter der Abteilung „Digital Health und Europäische Referenznetze“ bei der EU-Kommission. „Der Kommissionsentwurf enthält viele Sicherheitsvorkehrungen und -netze, um das Vertrauen zwischen Gesundheitsberufen und Patienten zu erhalten“, betonte Dorazil.
Dabei hätten Patienten nicht nur die Möglichkeit, die Verwendung ihrer Daten zu verweigern, sondern die Mitgliedstaaten könnten künftig selbst Datenkategorien definieren und deren Nutzung beschränken, erläuterte dazu der Europaabgeordnete Tomislav Sokol (EVP).
Vor allem aber seien unterschiedliche Sicherheitsniveaus je nach Verfremdungsgrad geplant: Standardmäßig seien die Daten anonymisiert. „Die Daten können aber auch pseudonymisiert zur Verfügung gestellt werden, dürfen dann aber nur in einer besonders geschützten Umgebung verfügbar sein“, erklärte er. „Dann gibt es keine Möglichkeit, sie herunterzuladen oder zu kopieren. Besonders sensible Daten werden immer in dieser geschützten Umgebung bleiben.“
Stephan Hofmeister, stellvertretender Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), zeigte sich davon wenig überzeugt. Eine echte Anonymisierung solcher Daten sei gar nicht möglich, da zentrale Angaben wie Alter, Geschlecht oder Herkunft für die Forschung immer medizinisch relevant seien.
Es sei heute ohne weiteres möglich, mittels Künstlicher Intelligenz (KI) daraus echte Identitäten zurückzuberechnen. „Sie können jeden Statistikprofessor fragen und er wird ihnen sagen, dass ich recht habe“, unterstrich Hofmeister.
Ärzte sind keine Datenlieferanten
Neben Sicherheitsaspekten sei die Entstehung des EHDS vor allem mit Blick auf Versorgungskapazitäten zu betrachten, hatte Reinhardt darüber hinaus betont. „Ärzte zu verpflichten, Daten bereitzustellen, nimmt den Patienten Zeit weg“, mahnte er. „Ärzte haben nicht die Zeit für einen zusätzlichen Nebenjob als Datenlieferanten.“
Auch diese Bedenken Reinhardts wollte Dorazil zerstreuen. Die Chancen für die Versorgung seien weit größer als die Gefahren, schon allein deshalb, weil stärker digitalisierte Abläufe zu großer Zeitersparnis führen könnten, die wiederum den Patienten zugute kämen, erklärte er.
Das jedoch bezweifelte Hofmeister. Er warnte vor den Haftungsfragen, die elektronische Patientenakten (ePA) mit sich brächten – und dem daraus möglicherweise entstehenden Zeitverlust.
In einem Klinikum an der US-Westküste habe er selbst beobachten können, was das im Extremfall bedeutet. Die Zahl der behandelten Patienten pro Arzt habe sich dort halbiert, weil diese weit mehr Zeit für das Studium von Vorbefunden und anderen ePA-Daten aufbringen mussten.
Umso wichtiger sei es, dass die Daten möglichst strukturiert vorliegen. „Das ist es, was ich von staatlicher Regulierung erwarte“, sagte Hofmeister. „Die Industrie wird diese Daten nie standardisieren, weil das ihr Geschäftsmodell beeinträchtigt.“
Davon, dass der EHDS der Pharmaindustrie etwas abverlangen wird, kann hingegen aus Sicht der SPD-Europaabgeordneten Birgit Sippel mitnichten die Rede sein. „Der Hauptzweck des EHDS ist nicht, Patienten und Ärzte zu unterstützen, sondern die Datenverfügbarkeit zu erhöhen, um das Geschäftsmodell der Pharmaindustrie zu stärken“, kritisierte sie.
Es brauche deshalb die Möglichkeit, möglichst feingranular zu entscheiden, welche Daten wofür verwendet werden dürfen: „Wenn es einen ernsten Grund gibt, habe ich keine Zweifel, dass sich die Menschen bereit erklären, ihre Daten zu teilen.“
Tatsächlich jedoch werfe die Industrie beispielsweise jedes Jahr neue Erkältungsmittel auf den Markt, die es eigentlich gar nicht brauche. „Wenn meine Daten für so einen Blödsinn verwendet werden, will ich sie nicht teilen“, erklärte Sippel.
Sie befürchte eine Verwässerung von Datenschutzstandards in Europa und spreche sich dafür aus, auf ein Opt-in-Verfahren beim EHDS zu setzen: Auch für das bisher vorgesehene Opt-out müsse man den Patienten schließlich Informationen bereitstellen, damit sie eine qualifizierte Entscheidung treffen können – dann könne man auch gleich auf ein Opt-in-Verfahren setzen, so ihr Argument. © lau/aerzteblatt.de

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