Ärzteschaft
Verfassungsrichter Peter Müller: BÄK gehört in den Gemeinsamen Bundesausschuss
Mittwoch, 17. Mai 2023
Essen – Der 127. Deutsche Ärztetag hat den Gesetzgeber aufgerufen, die Bundesärztekammer (BÄK) zum stimmberechtigten Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu machen. Dafür votierten die Delegierten heute in Essen. Zuvor hatte Peter Müller, Richter am Bundesverfassungsgericht, einen solchen Schritt angemahnt.
Die ärztliche Selbstverwaltung sei in den zurückliegenden Jahren immer unzureichender in wesentliche gesundheitspolitische Prozesse miteinbezogen worden, was weitreichende Folgen für deren Praktikabilität, Sachgerechtigkeit und Patientennutzen habe, erklärte die Delegiertenversammlung des Deutschen Ärztetages per Beschluss.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbachs (SPD) mehrfach geäußerte Auffassung, dass es sich bei Partnern in der Selbstverwaltung wie der BÄK oder der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) um Lobbyverbände handele, spiegele sich dabei vor allem in immer geringerer Einbeziehung in die Entscheidungsfindung – beispielsweise durch immer kürzeren und unzureichenderen Stellungnahmefristen.
So sei es zum Beispiel bei der Krankenhausreform: Lauterbach hatte selbst erklärt, bei deren Vorbereitung nur auf Wissenschaftler gesetzt zu haben. Hätte er stattdessen auch Standesvertreter mitreden lassen, „wäre es auf den üblichen Lobbyistenkrieg hinausgelaufen“, an dessen Ende nur die Forderung nach mehr Geld vom Steuerzahler stehe, hatte er beispielsweise Mitte Dezember der Wochenzeitung Die Zeit gesagt.
In der ärztlichen Selbstverwaltung löst Lauterbach mit solchen Einlassungen verlässlich Entrüstung aus. „Wer die Interessenvertreter der Ärzteschaft, wer die Ärztekammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts, als Lobbyisten verkennt, der hat unser Gesundheitssystem und die wichtige Rolle der Selbstverwaltung in diesem System einfach nicht verstanden“, warf ihm der rheinland-pfälzische Landesärztekammerpräsident Günther Matheis im Plenum vor.
Dass Lauterbachs Auffassung nicht nur aus standespolitischer, sondern auch verfassungsrechtlicher Sicht fragwürdig ist, erklärte daraufhin Peter Müller, ehemaliger Ministerpräsident des Saarlandes und seit 2011 als Nachfolger Udo di Fabios Richter am Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts.
Freiberuflichkeit und Selbstverwaltung seien „gerade im ärztlichen Bereich eine wertvolle gesellschaftliche Ressource, die wir brauchen, wenn wir ein leistungsfähiges Gesundheitswesen und damit eine humane Gesellschaft organisieren wollen“, unterstrich er.
Allerdings habe die Freiberuflichkeit einen eigenen, spezifischen Regelungsbedarf – was jedoch nicht heiße, dass es mehr Regeln als in der gewerblichen Wirtschaft geben müsse. „Das scheint nicht an jeder Stelle richtig verstanden worden zu sein“, merkte er an. „In Wahrheit ist der Begriff des Freien Berufes ja etwas seltsam, denn kein Berufsfeld ist so stark reglementiert.“
Gleichzeitig gelte, wenn das Konzept der Freiberuflichkeit erhalten werden solle, gebe es Grenzen der Kommerzialisierung. Selbstverständlich gelte das Wirtschaftlichkeitsgebot. Davon zu unterscheiden sei aber, wenn mit dem Ziel der Erschließung neuer Finanzquellen grundlegende Merkmale wie die besondere Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient oder die Gemeinwohlbindung hinter das Streben nach Gewinnsteigerung und Renditeerhöhung zurücktreten.
„Freiberufliche Tätigkeit ist kein geeigneter Ort für die Erprobung marktradikaler Ansätze“, unterstrich er. „Und wer permanent Wettbewerb, Wegfall von Werbe- und Zugangsbeschränkungen, Öffnung für neue Finanzinstrumente, Private Equity und Shareholder Value in den Wald hineinruft, darf sich nicht wundern, wenn ihm aus dem Wald ‚Einbeziehung in die Gewerbesteuer‘ entgegenschallt.“
Deshalb brauche es eine differenzierte Betrachtung, die an der verfassungsrechtlichen Fundierung der Freiberuflichkeit und ärztlichen Selbstverwaltung ansetzt. Geschützt werde durch das Grundgesetz nicht die Freiberuflichkeit an sich – der Begriff kommt darin gar nicht vor – wohl aber ein Bündel von Freiheiten der Berufsausübung.
Für den ärztlichen Bereich stehe dabei im Zentrum die Therapiefreiheit als das Recht, eigenverantwortlich und weisungsunabhängig nach den Regeln der ärztlichen Kunst über die jeweils einzusetzende Behandlungsmethode zu entscheiden.
Auch diese Freiheit sei nicht unbeschränkt. Die Frage sei nicht ob, sondern wie die ärztliche Therapiefreiheit eingeschränkt werden kann. Dabei seien zwei Dimensionen zu unterscheiden: Die Einschränkung der Freiheiten anderer und die Einschränkung durch staatliche oder sonstige Regulierung – das „Überziehen der freiberuflichen Tätigkeit mit Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien, Standards und allem Möglichen“, wie es der 67-Jährige auf den Punkt brachte.
Wenn Ärzte beispielsweise im Krankenhausbereich täglich im Schnitt mehr als drei Stunden für die Bürokratie aufwenden müssten und es im niedergelassenen Bereich nicht besser sei, dann führe das dazu, dass der Kern der freiberuflichen Tätigkeit – Hinwendung, Betreuung und Therapie des Patienten – darunter leide.
„Das Ende dieser Regulierungswütigkeit ist doch, dass denjenigen, die geschützt werden sollen, den Patientinnen und Patienten, nicht genutzt, sondern geschadet wird“, fasste er es zusammen. Deshalb müsse man die Frage stellen, ob das einfach so geht – genauer: ob es verfassungsrechtliche Grenzen für die Regulierung dieses Bereichs gebe.
Das Grundgesetz gehe dabei vom Vorrang der Freiheit aus, jede Einschränkung bedürfe einer demokratischen Legitimation durch den Souverän. „Das ist nicht unbedingt deutsches Denken“, wandte er ein und verwies auf die gängige Auffassung, dass alles verboten sei, was nicht explizit erlaubt sei. Das Grundgesetz sehe es hingegen genau umgekehrt.
„Das heißt, jede Einschränkung auch Ihrer freiberuflichen Tätigkeit muss letztlich zurückgeführt werden können auf eine Entscheidung des Gesetzgebers“, erklärte er an die Delegierten gerichtet. Der wiederum könne delegieren, was im Bereich der Selbstverwaltung auch stattfindet.
Seit langem gebe es eine heftige Debatte darüber ob die demokratische Legitimation des G-BA verfassungsrechtlich in Ordnung sei. „Wenn Sie sich anschauen, wie tiefgreifend die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses auch in Ihr Handeln eingreifen, dann ist das natürlich sehr, sehr weitgehend.“
Verfassungspolitisch argumentiert: „Wenn das so ist, dass hier zentrale Weichenstellungen vorgenommen werden, dann ist das ein Gebot der politischen Klugheit, diejenigen, die davon in besonderer Weise betroffen sind, nämlich die Ärztinnen und Ärzte, zu beteiligen und der Bundesärztekammer Sitz und Stimme im Gemeinsamen Bundesausschuss zu geben“, erklärte er.
Es brauche jedoch noch mehr: ein grundlegendes Umdenken in der Gesellschaft. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Damit können sie ein kommunistisches System organisieren, es ist aber nicht der Geist des Grundgesetzes“. Es fehle bisher eine notwendige Debatte über die Rücknahme des staatlichen Regelungsanspruchs.
Mit der Mehrheit der Delegierten hatte der Ärztetag im Anschluss einen Beschlussantrag des BÄK-Vorstands verabschiedet, der fordert, Vertreter der Ärztekammern in beratende Gremien zu allen Reformvorhaben des Gesundheitswesens einzubinden, alle Landesärztekammern sowohl in den Krankenhausplanungsausschüssen als auch in den Gremien zur sektorenübergreifenden Versorgung nach Paragraf 90a Sozialgesetzbuch V (SGB V) mit Sitz und Stimme zu beteiligen.
Auch müsse die BÄK, wie von Müller ebenfalls argumentiert, im G-BA und seinen Unterausschüssen stimmberechtigt einbezogen werden. Für schriftliche Stellungnahmen und Anhörungen zu Gesetzesvorhaben wiederum müssten – anders als derzeit üblich – Fristen eingeplant werden, die eine vertiefte Befassung innerhalb der stellungnahmeberechtigten Organisationen zulassen. © lau/aerzteblatt.de

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