Politik
Habeck: Datenschutz bei Gesundheitsforschung überdenken
Donnerstag, 25. Mai 2023
Berlin – Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) spricht sich dafür aus, Strukturen und Standards im Datenschutz zu überdenken, um bessere Rahmenbedingungen für die Gesundheitswirtschaft zu schaffen. Das erklärte er gestern bei einer Rede vor dem Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa).
Die deutsche Gesundheitswirtschaft verliere an Boden, warnte der Verband. So sei Deutschland bei der Zahl der klinischen Studien in den vergangenen Jahren kontinuierlich zurückgefallen, gemessen an totalen Zahlen von einst Platz zwei auf der Welt auf nun Platz sechs hinter den USA, China, Spanien, Großbritannien und Kanada.
Bevölkerungsgewichtet sehe es noch schlechter aus: In Deutschland kämen auf eine Million Einwohner derzeit 38 klinische Studien im Jahr. „In skandinavischen Ländern liegt diese Zahl im dreistelligen Bereich“, unterstrich Michael May, Medical Director von Bristol-Myers Squibb Deutschland und Vorsitzender des Ausschusses Forschung und Entwicklung beim vfa.
Das ist nicht nur für die Pharmaindustrie ein Problem, sondern für den gesamten Wirtschaftsstandort Deutschland, wie Habeck betonte: „Wir brauchen eine innovative Gesundheitswirtschaft als Wohlstandssicherungsfaktor in Europa.“ Daraus würden sich konkrete Aufgaben für sein Ressort ergeben, die sich von denen seines Kabinettskollegen, Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), unterschieden.
Strategische Innovationen müssen in Deutschland bleiben
So müsse Deutschland dafür sorgen, dass strategische Innovationen im Land bleiben, „weil Wirtschaftspolitik mittlerweile vor allem Standortsicherungspolitik ist“, wie er sagte. Gleichzeitig müsse der internationale Marktzugang für europäische Unternehmen gestärkt und entwickelt werden.
Der Trend zeigt jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Wenn große oder weltbekannte Unternehmen wie Biontech sich entscheiden, Standorte in anderen Ländern aufzubauen, werde das in der Öffentlichkeit wahrgenommen.
Unterhalb des Radars, aber strukturell mindestens genauso relevant, sei die schleichende Verlagerung von Forschungs- und Produktionskapazitäten, durch Entscheidungen zum Ausbau bereits bestehender Standorte im Ausland aufgrund der Rahmenbedingungen, warnte May.
„Es kränkt mich intellektuell, wenn ich sehe, dass hier heimische Unternehmen im Ausland investieren wegen des hiesigen Verständnisses von Datenschutz“, sagte Habeck. Dabei könne er nachvollziehen, dass es für Unternehmen unattraktiv sei, das bürokratische und regulatorische Dickicht in Deutschland zu durchsteigen. Man müsse deshalb überlegen, ob der datenschutzrechtliche Föderalismus in Deutschland noch zeitgemäß sei, regte er an.
Auch wolle er darauf hinwirken, dass Genehmigungsverfahren und Vertragsabschlüsse endlich schneller werden. So dauere es bei klinischen Studien in Deutschland im Schnitt 250 bis 300 Tage von der Beantragung bis zur Vertragsunterzeichnung, hatte May zuvor erklärt. In Frankreich beispielsweise seien es im Schnitt 20 Tage.
Es gebe Hochrechnungen, wonach sich die Zahl der hierzulande durchgeführten Studien in den kommenden Jahren um 30 30 bis 50 Prozent verringern werde, falls keine Maßnahmen ergriffen werden, deren Rahmenbedingungen zu verbessern, erklärte er.
Davor warnte auch der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). „Wenn wir jetzt nichts tun, entstehen die Ideen der Zukunft woanders“, erklärte Lauterbachs Vorgänger bei seinem nach eigenen Angaben ersten gesundheitspolitischen Termin seit der Amtsübergabe im Dezember 2021.
Spahn warnt vor Deindustrialisierung
Das deutsche Geschäftsmodell, mit billiger Energie und billigen Rohstoffen Maschinen herzustellen und in alle Welt zu verkaufen, sei ins Wanken geraten. „Wir sehen bereits eine schleichende Deindustrialisierung“, mahnte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Statt im großen Stil Subventionen zu verteilen, um Branchen zu päppeln, müsse die Politik von den Unternehmenssteuern bis zu den Energiepreise die richtigen Rahmenbedingungen schaffen.
Und es brauche unbedingt endlich eine Strategie zur Produktivitätssteigerung. Denn es sei paradox: „Wir hatten noch nie so viele Menschen in Arbeit wie momentan, unsere Produktivität ist aber nicht gestiegen.“ Der demograische Wandel werde aber ganz im Gegenteil dazu führen, dass immer weniger Menschen immer mehr produzieren müssten, um das jetzige Wohlstandsniveau zu halten. Automatisierung und Künstliche Intelligenz würden eine zunehmende Rolle spielen – die aber definiert und gefördert werden müsse.
Doch es brauche noch mehr, nämlich nicht weniger als einen gesellschaftlichen Wandel mit Blick auf den Fortschritt. Die Gesellschaft müsse sich wieder Ziele setzen und Erfolgserzählungen schaffen. „Wenn wir es zum Beispiel schaffen, Alzheimer endlich aufzuhalten, tun wir etwas für Millionen Menschen auf der Welt – und natürlich auch für die Pflegekassen“, erklärte er. Vergangenes Jahr habe Deutschland 100 Milliarden Euro zusätzlich für Gas ausgegeben, da müsse für so etwas auch Geld da sein.
Wirtschaftliche Souveränität bewahren
Hinzu komme in Zeiten eines neuen Protektionismus in den USA und China die gestiegene Bedeutung wirtschaftlicher Souveränität. Damit meine er keine Autarkie oder Entkopplung, sondern eine gezielte Verringerung von Abhängigkeiten und Risiken, insbesondere vom Standort China.
„Wir lassen unsere Rüstungsgüter doch auch nicht in China produzieren, weil es dort billiger ist“, mahnte er mit Blick auf Arzneimittelengpässe durch abreißende Lieferketten. „Stellen Sie sich vor, was in der Coronapandemie gewesen wäre, wenn wir die Impfstoffe dort hätten entwickeln lassen müssen.“
Diese Souveränität müsse vor allem auch bei digitalen Technologien hergestellt werden, betonte Irene Bertschek, Forschungsbereichsleiterin Digitale Ökonomie am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. Denn diese Technologien seien zentral als die Ermöglicher von wissenschaftlichem Fortschritt.
Hier ist Deutschland bekanntlich alles andere als weltweit führend. Einerseits fehle es an der Infrastruktur für eine zeitgemäße Forschungsdatennutzung, andererseits sei es zu schwer, an qualitativ ausreichende Daten zu gelangen.
„Der Zugang zu Daten ist essenziell für den Erkenntnisgewinn. Wir können den Datenschutz aber nicht über den Erkenntnisgewinn stellen“, betonte sie. Das Problem sei nicht die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), sondern ihre Auslegung, wie die Beispiele anderer europäischer Länder zeigen würden.
Hinzu komme die Generierung von Daten, speziell die Infrastruktur, die Quellen und Rezipienten verbindet. So werde immer noch stark unterschätzt, welche wichtigen Erkenntnisse die Forschung durch gute Daten aus der Routineversorgung generieren kann, betonte Harald Gschaidmeier, Senior Medical Director bei Biontech.
Da müssten unbedingt Strukturen aufgebaut und erweitert werden, die die Bereitstellung von und den Zugang zu Daten aus Praxen und Krankenhäusern für Wissenschaft und Unternehmen verbessern.
Dateninfrastruktur für klinische Studien in Spanien vorbildlich
Spanien beispielsweise habe eine zentrale Dateninfrastruktur für klinische Studien längst aufgebaut und damit großen Erfolg gehabt – das Land ist mittlerweile bei der Zahl der klinischen Studien an Deutschland vorbeigezogen. Genauso wie Frankreich, das ein zentrales Vertragssystem für solche Studien eingerichtet hat, oder Großbritannien, das mit Steuererleichterungen für forschende Unternehmen einen Standortvorteil geschaffen hat.
May und der vfa schlagen vor, ebenfalls strukturiert vorzugehen: Es brauche einen Roundtable für klinische Studien. „Wir schlagen ein Gremium vor, das gern vom Bundesgesundheitsministerium geleitet werden kann, in dem alle Player sitzen, die an klinischen Studien beteiligt sind“, erklärte er.
Dieses Gremium könne nicht nur die Maßnahmen koordinieren, sondern auch als Thinktank dienen, der neue Ideen entwickelt. Einen solche Idee für eine relativ niedrigschwellige Maßnahme zur Unterstützung von klinischen Studien hatte May gleich selbst dabei: Study Nurses.
Es brauche mehr solcher Studienassistentinnen und -assistenten, damit Versorgung und Forschung besser Hand in Hand gehen können, sagte May: „Wir könnten Study Nurses stärker einbinden und ihnen mehr Verantwortung delegieren, um so die Ärzte zu entlasten.“ © lau/aerzteblatt.de

Nachrichten zum Thema


Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.