Politik
Debatte über Krankenkassenbeiträge und Rationierung entfacht
Freitag, 2. Juni 2023
Berlin – Bis Ende Mai sollte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Vorschläge für eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) machen. Die liegen noch nicht auf dem Tisch, aber eine Debatte dazu ist bereits entfacht.
Eine einfache Erhöhung der Beiträge sehen die Krankenkassen kritisch, ein Gesundheitsökonom bringt Rationierungen oder einen kompletten Systemumbau ins Gespräch. Die Politik beteuert, es soll keine Leistungskürzungen geben.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte dazu gestern erneut sein mehrfach betontes Mantra wiederholt. Er könne „Leistungskürzungen ausschließen“, sagte er vor Journalisten in Berlin. „Leistungskürzungen – im Rahmen der wissenschaftlich gesicherten Leistungen – sind vollkommen ausgeschlossen und stehen auch nicht in unserem Entwurf.“
Wenn überhaupt werde man Leistungen kürzen, „die medizinisch überhaupt gar keinen Sinn machen würden“. Was das sein könnte, führte er nicht weiter aus. Nachfragen ließ das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) bislang unbeantwortet.
Ähnlich äußerte sich der Koalitionspartner FDP. „Wir sind uns in der Regierungskoalition einig, dass wir an den grundsätzlichen und evidenzbasierten medizinischen Leistungen nichts kürzen können, wollen und dürfen“, sagte der gesundheitspolitische Sprecher der FDP, Andrew Ullmann, dem Spiegel und dem Handelsblatt.
Ob die Krankenkassen Kosten für „Maßnahmen übernehmen sollten, deren Wirkung nicht nachgewiesen worden ist oder nicht nachgewiesen werden kann, sollte keine offene Frage mehr sein“, legte er mit Blick auf Homöopathie nach.
Der GKV-Spitzenverband hatte bereits gestern erklärt, dass eine nachhaltige Finanzierung der GKV „notwendig und möglich“ sei, ohne die Beitragszahlenden weiter zu belasten. Statt weiterer Ad-hoc-Maßnahmen zur kurzfristigen Stabilisierung der GKV-Finanzen müsse unter anderem die „Subventionierung des Staates“ durch die GKV beendet und weiter an einem effektiveren Versorgungssystem gearbeitet werden, sagte Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes.
„Es ist gut zu wissen, dass die Regierungskoalition nun endlich in eine konkrete Diskussion eintritt, auch wenn wir bedauern, dass die Krankenkassen als Kostenträger noch nicht zu den Vorstellungen informiert wurden“, sagte heute auch Frank Hippler, Vorstandsvorsitzender der IKK classic.
Er betonte, eine erneute, zusätzliche Belastung der Beitragszahlenden – sei es durch Erhöhung der Beitragssätze oder der Beitragsbemessungsgrenze – müsse unbedingt vermieden werden. „Es gibt genügend Ansätze für eine langfristige und stabile GKV-Finanzierung.“ Wichtig sei, dass die Maßnahmen greifen, bevor sich die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben in der GKV noch weiter öffne.
Was es braucht, sei ein umfassendes, schnell und nachhaltig wirksames Maßnahmenpaket, so Hippler. Dazu gehören aus Sicht der IKK classic unter anderem die generelle Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arznei- und Hilfsmittel, kostendeckende Beiträge für Bürgergeldempfänger sowie eine Dynamisierung des Bundeszuschusses für die GKV zur Kompensation versicherungsfremder Leistungen.
„Es müssen aber auch Strukturen weiterentwickelt werden“, betonte Hippler. „Am Beispiel der geplanten Krankenhausreform zeigt sich, dass dies schwierig und langwierig ist. Aber ohne zeitgemäße, effiziente Strukturen werden wir immer nur mehr Geld in die Versorgung pumpen, ohne dass sie besser wird“, sagte der IKK-Chef.
Leistungskürzungen lehnt die IKK classic ab. „So lange nicht alle Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben wurden – und das sind sie bei weitem nicht – sollten Leistungskürzungen überhaupt nicht in Erwägung gezogen werden“, so der Vorstandsvorsitzende.
Rationierung oder Systemumbau
Ganz anders sieht das der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Für ihn ist die Gesundheitsversorgung ein Generationenvertrag wie die Rente. Das Problem sei, dass es immer mehr alte und damit kranke Menschen gebe, die von jungen und gesunden Beitragszahlern finanziert werden müssten, sagte er heute tagesschau24. Deshalb werde sich das Finanzloch weiter vergrößern.
Raffelhüschen sprach sich ebenfalls gegen eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze aus. Für ihn muss das Finanzierungssystem der GKV ganz umgestellt werden. Er schlägt Gesundheitspauschalen vor, wie es in der Schweiz oder den Niederlanden gemacht wird.
„Eine Pauschale verbunden mit einer Selbstbeteiligung, die bei 1.000 oder 2.000 Euro liegt, je nachdem, welche Pauschale man in welcher Höhe wählt, das sind marktorientierte Prozesse, die man gehen kann“, sagte er. Für einen sozialen Ausgleich sei dann nicht die Versichertengemeinschaft, sondern der Steuerzahler zuständig.
Wenn man diesen Weg nicht gehen wolle, müsse man eine Art „Gesundheitssicherungshauptamt“ schaffen, das festlege, wer was an Leistungen bekommen soll.
„Wir können nicht auf Dauer alles medizinisch Notwendige für alle Menschen finanzieren, ohne dass wir zukünftige Beitragszahler hoffnungslos überfordern“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler. Deshalb müsse man im Grund genommen in irgendeiner Form rationieren. „Das sind keine Botschaften, die ein Politiker gerne ausspricht. Das kostet eben Wählerstimmen.“
Erst gestern war eine Debatte um die Frage entbrannt, ob die zahnärztliche Versorgung gar nicht mehr von der GKV bezahlt werden sollte. Raffelhüschen unterstützt die Idee. „Das müssen wir tun. Wir werden Teile der Gesundheitsversorgung ausgliedern; solche Teile, deren Risiken für die Menschen handhabbar sind. Um es ganz deutlich zu sagen: Zähne kann man halt putzen.“
Der Ökonom sieht das aber nur als kleinen Teil einer Lösung an. Für ihn muss der Leistungskatalog der GKV auf das Notwendigste beschränkt werden, damit man die Beiträge für die zukünftigen Generationen von Beitragszahlern konstant halten kann.
Wichtig sei zudem, dass man in der ambulanten Versorgung und bei Heil- und Hilfsmitteln deutlich höhere Eigenbeteiligungen einfordern müsse. Die Menschen müssten „daran gewöhnt werden, dass medizinische Leistung einen Preis hat“. Es brauche dafür eine höhere Selbst- oder Eigenbeteiligung. „Auch das ist eine Botschaft, die man als Wissenschaftler sagen kann, aber als Politiker wohl kaum.“ Denn die Wählermehrheit sei jenseits der 55 Jahre. „Sie ist im wesentlichen alt und von Krankheit bedroht.“
Raffelhüschen betonte, man könne aber nur über Eigenbeteiligungen oder über administrative Rationierung. steuern. „Das englische System rationiert. Sie bekommen als Dialysepatient keine Dialyse mehr, wenn sie ein bestimmtes Alter überschreiten. Bei uns ist das alles noch drin“, sagte er. „Aber wir können das nicht für alle auf alle Zeiten finanzieren. Wir müssen auch hier rationieren.“ © cmk/may/bee/aerzteblatt.de

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