Vermischtes
Spiritual Care: Noch Mangel an ganzheitlicher Gesundheitsversorgung
Montag, 18. September 2023
Berlin/Essen – Spiritual Care, die Berücksichtigung der spirituellen Bedürfnisse von Schwerkranken und sterbenden Menschen in Krankenhäusern, Altenheimen und Hospizen, gehört zu einer ganzheitlichen Gesundheitsversorgung. Momentan spielt sie aber im Versorgungsalltag kaum eine Rolle.
Dies bestätigten am vergangenen Freitag Teilnehmende aus Medizin, Pflege und Seelsorge bei der Tagung „Spiritual Care: Unverzichtbar in der Behandlung und Pflege Schwerkranker und Sterbender“ der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte und der Universität Witten/ Herdecke, die in Essen stattfand.
Ganzheitlichkeit schließe Spiritualität ein – und zwar weltanschauungsübergreifend, betonten auf der Tagung Referentinnen und Referenten aus verschiedenen Bereichen. Das entspreche auch den Standards, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Pflege in der Palliativversorgung vorschlage.
Gerade die Sinnsuche in schwerer Krankheit und am Lebensende verlange nach spiritualitätskompetentem Personal, das neben der somatischen und psychischen Behandlung eine soziale und individuell spirituelle Begleitung ermögliche, so ein Fazit der Tagung.
Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Justiz a. D. und Mitgründerin des interfraktionellen Gesprächskreises Hospiz im Bundestag sowie langjährige Schirmherrin der Hospizbewegung (DHPV), bedauerte auf der Tagung, dass die Themen Spiritualität und Palliativmedizin generell nur „sehr schleppend“ vorangetrieben würden.
Die Palliativmedizin sei zwar in den vergangenen Jahren gestärkt worden, es sei aber noch viel zu tun. Ohne Ehrenamtliche ließe sich der Bedarf nicht decken. Spiritualität sei als eine Säule der Palliativversorgung definiert, betonte Däubler-Gmelin. „Das ist nichts Esoterisches, es gehört zum Menschen.“
Dieser Ansicht ist auch die Diakonie Deutschland. Sie fordert, Spiritual Care fest in das Curriculum der medizinischen und pflegerischen Berufe zu integrieren und qualifiziert seit 2020 in einem Modellprojekt „Curriculum Spiritual/Existential Care interprofessionell (SpECi)“ Pflegefachkräfte im Bereich Spiritual Care, das von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) zertifiziert wird.
Gerade in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft mit immer diverser werdenden Vorstellungen von einem guten Lebensende komme der spirituellen Begleitung eine wichtige Rolle zu, sagte Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, in seiner Videobotschaft zur Tagung. Dies sei eine Herausforderung, aber auch Chance.
Um diesen Wunsch von vielen Betroffenen professionell umsetzen zu können, gehöre Spiritual Care in die Curricula der medizinischen und pflegerischen Berufe und müsse von den Kostenträgern finanziert werden, fordert die Diakonie Deutschland. Auch wenn in vielen Fällen nicht die klassische Form von Religion vorläge, müsse auf die Werte, Überzeugungen und spirituellen Bedürfnisse von sterbenden Menschen eingegangen werden, so Lilie.
Dies betrifft auch explizit Ärztinnen und Ärzte. Das Zulassen von Spiritualität hebe die Arzt-Patienten-Beziehung auf eine andere Ebene und stärke das Vertrauen, erläuterte Lukas Radbruch, Direktor der Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Bonn und Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Helios Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg. Spiritualität sei Teil des ganzheitlichen Konzepts.
Trotzdem werde Distanz und Nähe sowie der Umgang mit Trauer und Tränen in der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten nie thematisiert, höchstens in einem Wahlpflichtfach, kritisierte der Arzt und Hochschullehrer. Spiritualität könne man in einem Moment des Innehaltens und des Zuhörens erkennen, berichtete er.
Ärztinnen und Ärzte könnten auch allein durch ihre Anwesenheit helfen –dies werde jedoch selten vermittelt. „Dabei sind Spiritualität und Rituale Ressourcen sowohl für Betroffene und als auch für die Behandler. Sie sollten den Alltag in der Palliativmedizin durchdringen“, betonte der Palliativmediziner.
Genau da setzt das von Diakonie und Caritas, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und dem Deutsche Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) initiierte Langzeitprojekt SpECi an. Ziel ist, den ganzheitlichen Blick auf den Menschen durch eine standardisierte Qualifikation von Mitarbeitenden in den Gesundheitsberufen im Krankenhausalltag besser zu verankern.
Erprobt werde SpECi seit 2020 in acht großen deutschen Klinikkomplexen, berichtete Astrid Giebel, Theologin im Vorstandsbüro der Diakonie Deutschland. Dort werde das 40-stündige berufsgruppenübergreifende SpECi-Curriculum in die laufende Arbeit integriert. Es baue auf den vorhandenen Kompetenzen in der pflegerischen, ärztlichen, therapeutischen und hospizlichen und palliativen Versorgung auf.
Mit spezifischen und teilweise unkonventionellen Mitteln fördere es die Sensibilisierung für die existenziellen und spirituellen Fragen im Zusammenhang von Krankheit und Sterben sowie die Kommunikationsfähigkeit und Handlungskompetenz des Personals bei diesen Themen. Vom Benefit des Einsatzes ist Giebel überzeugt: „Gesundheitspolitik braucht Spiritualität, wenn das Gesundheitswesen heilsam sein soll“, sagte sie.
Dass Spiritualität tatsächlich einen Unterschied machen kann, zeigen die ersten Ergebnisse des Modellprojekts SpECi: 87 Prozent der befragten Patientinnen und Patienten fühlten sich durch in Spiritual Care geschulten Fachkräfte gut begleitet und 79 Prozent fühlten sich von diesen in ihren spirituellen Bedürfnissen unterstützt, so Arndt Büssing von der Universität Witten/Herdecke, der die Studie wissenschaftlich begleitet.
Dabei hätten vielfach weniger religiöse Bedürfnisse eine Rolle gespielt, sondern vielmehr Bedürfnisse nach innerem Frieden und Generativität sowie nach familiärer Unterstützung.
Sein Eindruck: „Spirituelle Bedürfnisse von Schwerkranken sind hoch und bleiben es während des Aufenthalts häufig auch. Sie können als Vitalzeichen bezeichnet werden, als Sehnsucht nach einem Leben in Fülle.“ Aber auch die An- und Zugehörigen hätten häufig solche Bedürfnisse bei der Auseinandersetzung mit Tod, Krankheit und Behinderung.
Büssings Begleitstudie belegt auch, dass die durch SpECi geschulten Fachkräfte von dem 40 Stunden umfassenden Kurs profitieren: 85 Prozent hätten angegeben, dass der Kurs sie sicherer gemacht habe, mit den spirituellen Bedürfnissen von schwerkranken und sterbenden Patienten und Patientinnen umzugehen und 85 Prozent von ihnen wären danach deutlich häufiger als zuvor auf diese Bedürfnisse eingegangen, erläuterte er.
Positiv habe der sich Kurs auch auf das Wohlbefinden und die Arbeitszufriedenheit des medizinischen und pflegerischen Personals ausgewirkt, so Büssing. 71 Prozent des Personals habe sich besser in ihren eigenen spirituellen Bedürfnissen unterstützt gefühlt – und das, obwohl die Befragungen während der Pandemie stattfanden und sie aufgrund Einschränkungen stark belastet waren.
Generell wünschten sich 87 Prozent der Fachkräfte mehr Zeit für Gespräche über spirituelle Bedürfnisse. Erst wenn sich „Team-Spirit“ entwickelt, so Büssing, könne die Arbeitszufriedenheit von Pflegefachkräften trotz der Belastung im Job höher sein als diese. „Es gilt, für Spiritual Care angemessene Zeit- und Personalressourcen bereitzustellen, damit nicht diejenigen ausbrennen, die bereits jetzt schon am Limit arbeiten.“ © ER/aerzteblatt.de

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