Politik
FDP bereut Reform bei Arzneimittelpreisen
Dienstag, 19. September 2023
Berlin – Die FDP hält die von ihr mit verabschiedeten Reformen bei der Preisbildung von Arzneimitteln für einen Fehler. Das erklärte Lars Lindemann, Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Bundesgesundheitsausschusses, gestern bei einer Veranstaltung eines Bündnisses von Pharmaunternehmen.
Mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) hatte die Ampelkoalition vergangenes Jahr kleinere Reformen bei der Preisbildung im Verfahren nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) beschlossen, um die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung zu senken.
Unter anderem beinhaltete das Gesetz sogenannte „Leitplanken“, nach denen neue Arzneimittel, die keinen Zusatznutzen aufweisen, einen niedrigeren Erstattungsbetrag erhalten sollen als eine patentgeschützte Vergleichstherapie – und solche mit nur geringem oder einem nicht quantifizierbaren Zusatznutzen gegenüber einer patentgeschützten Vergleichstherapie einen vergleichbaren Preis.
Dies geschah zum großen Unmut der Arzneimittelindustrie – die dafür gestern bei der Vorstellung eines Positionspapiers zur Sicherstellung ihrer Wettbewerbsfähigkeit Zuspruch von FDP und CDU erhielt.
„Als wir 2009 bis 2013 das AMNOG gemacht haben, war das eine bahnbrechende Innovation und die Grundprinzipien, die uns damals geleitet haben, sind jetzt durch die sogenannten Leitplanken ein Stück weit eingeschränkt worden“, erklärte Lindemann. „Was ich hier für meine Partei sagen kann: Wir halten das mittlerweile für einen Fehler, weil wir Wirkungen sehen, die so nicht intendiert waren.“
Im Kern sei es so, dass die Leitplanken „einen wesentlichen Innovationstreiber abgeschwächt“ hätten. „Und das ist nicht klug. Ich meine, das müssten wir zurücknehmen, weil wir am Ende alle davon profitieren, dass auch Kleinstinnovationen im System besser honoriert werden und dann vielleicht auch die Chance haben, irgendwann ein Blockbuster zu werden, wofür es ja eine ganze Menge Beispiele gibt.“
Die Politik müsse für stabile Rahmenbedingungen für die pharmazeutische Industrie in Deutschland sorgen. Das hänge selbstverständlich auch mit der Frage nach der Preisbildug zusammen. „Und dann kann man bei der Preisbildung auch soziale Aspekte zur Geltung kommen lassen.“
Allerdings solle man es tunlichst unterlassen, nach einer durch Verhandlungen zustandegekommenen Preisbildung, „aus kurzfristigen finanziellen Interessen einzugreifen“, sagte Lindemann. „Das ist an diesen Stellen passiert und deshalb werden wir da miteinander besprechen, wie wir in der Lage sind, das so zu korrigieren, dass wir das ein Stück weit austarieren.“
Sepp Müller (CDU), ebenfalls Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Bundesgesundheitsausschusses, pflichtete dem bei und forderte grundlegende Nachbesserungen bei der Erstattungssystematik. „Das AMNOG muss reformiert werden, aber nicht am Rande eines GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes, sondern entsprechend umfassend.“
Einzig die Grünen-Bundestagsabgeordnete Paula Piechotta verwies darauf, dass sich die finanziellen Bedürfnisse in Deutschland nicht einzig auf die der Industrie beschränken. „Wenn wir wirklich ehrlich reden wollen, müssten hier eigentlich auch Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherung stehen“, mahnte sie an.
Die massiven Ausgaben während der Coronapandemie seien „kein haltbarer Zustand“ gewesen, Kürzungen deshalb notwendig gewesen. „Zur Wahrheit gehört auch, dass das AMNOG für die Rentabilität der deutschen Pharmaindustrie nicht so relevant sein wird wie das EU-Pharmapaket.“
An dem wird derzeit in Brüssel gefeilt, es sieht eine grundlegende Reform des EU-Arzneimittelrechtsrahmens vor und enthält in seinem jetzigen Bearbeitungsstand unter anderem das Vorhaben, das System von Patenten und Unterlagenschutz bei Arzneimitteln weiter auszudifferenzieren – ebenfalls zum Unmut der Unternehmen, die sich zum Bündnis „Gesunde Industriepolitik – Fortschrittsdialog“ zusammengeschlossen haben.
Sie fordern eine Stärkung des Patentschutzes auf europäischer Ebene genauso wie eine Beschleunigung von Zulassungs- und Marktzugangsverfahren. Auch müssten Kosten-Nutzen-Verfahren zur Preisfindung harmonisiert werden, wie es im Rahmen des Health Technology Assessment (HTA) auf EU-Ebene ohnehin geplant ist.
Industrie listet ihre Positionen auf
Insgesamt müsse auch die deutsche Industriestrategie Teil einer größeren, europäischen sein, erklärten die Unternehmen in ihrem Positionspapier: „Wir brauchen eine strategische Partnerschaft für eine starke europäische Gesundheitsindustrie, die die zentrale Bedeutung der innovativen Pharma- und Biotechbranche für die europäische Wirtschaft und Gesundheitsversorgung als Leitindustrie erkennt.“
Das sei notwendig, um ein weiteres Zurückfallen der europäischen Arzneimittelindustrie hinter ihre Wettbewerber noch zu verhindern. Auch die Bundesregierung müsse eine koordinierte Industriestrategie für die Gesundheitswirtschaft entwickeln.
Die industrielle Gesundheitswirtschaft in Deutschland und Europa verliere zunehmend an Boden, warnt die Gruppe um die internationalen Pharmaunternehmen Bayer, Gilead, Amgen, GlaxoSmithKline, Novartis, Roche und Boehringer Ingelheim, der sich auch die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) angeschlossen hat.
Während beispielsweise in den USA die Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E) zwischen 1990 und 2019 um das Achtfache angestiegen seien, seien sie in Europa im gleichen Zeitraum nur um das 4,5-Fache gewachsen. „In der Folge sank Europas Anteil am Pharmaweltmarkt. Und er wird weiter sinken, getrieben durch teilweise kontraproduktive nationale und europäische Regulierungen“, heißt es im Positionspapier.
Aktuelle Entwicklungen würden diese Analyse stützen: So sei die Gründungsaktivität von Biotechnologieunternehmen seit 2018 rückläufig. Grund sei die nicht ausreichende Förderung: Von den 6,2 Milliarden Euro, die hierzulande 2019 in Start-ups investiert worden seien, seien gerade einmal 1,5 Prozent in Biotech-Start-ups geflossen.
Um ihren Anliegen Ausdruck zu verleihen, hatten die sechs Unternehmen sowie die Gewerkschaft unter Schirmherrschaft der Parlamentarischen Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, Gabriele Katzmarek, im Laufe des Frühjahrs und Sommers an acht Standorten von Dresden bis Wuppertal und Barleben bis München Veranstaltungen durchgeführt.
Ziel war vor allem die Vernetzung mit Akteuren aus Politik und Wirtschaft. Die großen Pharmaverbände, insbesondere der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa), der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) und der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) waren dabei außen vor geblieben.
Katzmarek, die für die Sozialdemokraten im Wirtschaftsausschuss sitzt, hatte ihre Schirmherrschaft unter anderem mit der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der Pharmaindustrie für Deutschland begründet. Sie sei „ein wesentlicher Standortfaktor in dieser Industrienation“, erklärte sie gestern Abend in Berlin. „Wir müssen alles tun, um dort, wo wir Boden verloren haben, aufzuholen.“
Rund 190 Milliarden Euro im Jahr trage die industrielle Gesundheitswirtschaft nach Angaben des Bündnisses zum deutschen Bruttosozialprodukt bei, die Zahl der Beschäftigten sei mit 1,1 Millionen deutlich höher als die in der Automobilindustrie. Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums arbeiteten dort im Jahr 2021 knapp 790.000 Menschen.
aerzteblatt.de
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Dabei seien die Arbeitsplätze in der pharmazeutischen Industrie durch das höchste Maß an Tarifbindung aller Industrien, ein besonders hohes Qualifikationsniveau und generell gute Arbeitsbedingungen geprägt, betonte der IGBCE-Vorsitzende Michael Vasiliadis.
„Natürlich streiten wir auch hier über Löhne, aber vom Grundsatz her sind die Unternehmen, die hier aktiv sind, daran interessiert, gute Leute gut zu bezahlen und ordentliche Arbeitsbedingungen zu gewährleisten“, sagt er.
„Und das ist auch für eine Gewerkschaft entscheidend, denn wenn diese Bedingungen nicht stimmen würden, würden wir uns darum kümmern, und nicht um das andere.“ Während es ansonsten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik oft um Prekarisierung und Mindestlöhne gehe, sei die entscheidende Frage in der pharmazeutischen Industrie, wie sie die besten Fachkräfte akquirieren könne.
Angesichts der demografischen Entwicklung könne das allein aus Deutschland heraus nicht mehr gelingen. Deutschland sei nach Japan das Industrieland mit der ältesten Bevölkerungsstruktur – würde man die demografische Lücke ohne Zuwanderung schließen wollen, müsste jede Familie in Deutschland im Schnitt sieben Kinder bekommen, erklärte der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Christian Dürr.
Dabei koste – statistisch gesehen – jede fehlende Facharbeitskraft 86.000 Euro Wirtschaftsleistung im Jahr. „Das kostet echte Wirtschaftsleistung“, betonte Dürr. „Es kostet uns bereits heute Wachstum, dass Arbeitskräfte in Deutschland fehlen, und deshalb müssen wir da die richtigen Arbeitsbedingungen schaffen.“
Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz habe die Bundesregierung in diesem Bereich jüngst eine wichtige Weichenstellung vorgenommen. Allerdings müsse neben der Fachkräftegewinnung auch in deren Entwicklung und Bindung investiert werden, mahnt das Unternehmensbündnis in seinem Positionspapier. Benötigt werde dazu neben dem Abbau bürokratischer Hürden auch eine klare Willkommenskultur.
Aktuellen Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist Deutschland für qualifizierte Auswanderer ein weit weniger attraktives Ziel als andere große Industrienationen wie die USA, Großbritannien oder Kanada. Als einer der Hauptgründe für diese fehlende Attraktivität gilt die gesellschaftliche Einstellung zu Migration hierzulande. „Auch die Unternehmen tragen eine Verantwortung für eine Willkommenskultur“, mahnte Katzmarek.
Damit hoch qualifizierte Fachkräfte die Arzneimittelindustrie hierzulande voranbringen können, bräuchten aber auch die Unternehmen ausreichende Rahmenbedingungen für wissenschaftliche und medizinische Forschung. Auch hier hat Deutschland im internationalen Vergleich viel Boden verloren.
Konkret brauche die Industrie zügige Planungsverfahren, weniger Bürokratie, die Harmonisierung von Regelungen und eine bessere personelle Ausstattung von Aufsichtsbehörden. „Dazu gehört auch, dass die zahlreichen, isoliert nebeneinanderstehenden öffentlichen Fördertöpfe und -quellen für biotechnologische Forschung und Entwicklung gebündelt und – durch privates Kapital flankiert – zu einer lückenlosen Finanzierungskette über alle Wertschöpfungsstufen hinweg verbunden werden“, heißt es im Positionspapier.
Auch die mangelhafte Dateninfrastruktur werde ein immer größeres Problem für die medizinisch-pharmazeutische Forschung. Hier fallen Deutschland Versäumnisse der Vergangenheit auf die Füße. „Die Idee der Datensparsamkeit ist von gestern“, hatte Dürr erklärt.
Das Unternehmensbündnis fordert deshalb einheitliche und sichere Standards für Qualität und Nutzung von Daten sowie ein interoperables Datenökosystem für eine bedarfsgerechte Patientenversorgung und einen gleichberechtigten Zugang universitärer, außeruniversitärer und privatwirtschaftlicher Akteure zu den Daten.
All das müsse in einen größeren Kontext eigebunden werden. „Wir brauchen eine Industriestrategie für die Gesundheitswirtschaft, die – von der Bundesregierung geführt – in einem transparenten Dialog mit den Entscheidungsträgern und allen relevanten Akteuren erarbeitet wird“, fordern die Unternehmen. Dabei müsse es sich um eine „ganzheitliche Strategie“ handeln, „die die industrielle Gesundheitswirtschaft als Leitindustrie versteht“. © lau/aerzteblatt.de

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