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Medizin

20 Jahre Tschernobyl: Divergierende Schadensschätzungen von WHO und Greenpeace

Dienstag, 25. April 2006

Blick auf den Sarkophag, der den Reaktorblock Vier des Atomkraftwerks in Tschernobyl  ummantelt /dpa 

Genf/Amsterdam/Wien - Zwanzig Jahre nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl gehen die Schätzungen über die Zahl der zu Schaden gekommenen Menschen weiter auseinander als je zuvor. Dies zeigen die in den letzten Tagen und Wochen publizierten Berichte verschiedener Organisationen. Den Anfang hatte im September letzten Jahres die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) gemacht. Sie kam aufgrund einer mehrjährigen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass nur etwa 4.000 Menschen an den Folgen der Reaktorkatastrophe gestorben seien oder noch sterben würden. Sehr provokativ wurde behauptet, die Angst vor den gesundheitlichen Folgen der radioaktiven Kontamination weiter Landstriche habe mehr Schaden angerichtet als der Fall-out selbst. Dies zog eine scharfe Kritik von Greenpeace und auch der Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) nach sich. Beide kommen zu deutlich höheren Opferzahlen. Dieser Tage hat auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die bereits an der Publikation des IAEA beteiligt war, einen Bericht vorgelegt. 

Der WHO zufolge haben die 240.000 so genannten Liquidatoren - die nach der Explosion vom 26. April 1986 zu Aufräumarbeiten abkommandierten Arbeiter - die höchste Strahlendosis erhalten. Sie wurden nach Schätzungen der WHO mit mehr als 100 Milli-Sievert (mSv) exponiert, zusätzlich zur natürlichen Hintergrundbelastung (48 mSv in 20 Jahren). Die zweithöchste Exposition trat in der inneren Sonderzone (stricty controlled zones, SCZ) auf, die mit mehr als 555 kBq/m2 kontaminiert wurde. Dort leben etwa 270.000 Menschen, die im Verlauf der letzten 20 Jahre mit mehr als 50 mSv belastet wurden. Damit sind sie heute stärker belastet als jene 116.000 Menschen, die nach der Katastrophe aus der unmittelbaren Umgebung des Reaktors evakuiert wurden, nachdem sie mit 33 mSv belastet worden waren.

Für die etwa 5 Millionen Bewohner der niedrig kontaminierten SCZ (Durchschnitts-Exposition: 37 kBq/m2) geht die WHO von einer Exposition von 10 bis 20 mSv in 20 Jahren aus, wiederum zusätzlich zur Hintergrundbelastung von 48 mSv in diesem Zeitraum. Die zusätzliche Belastung liege damit im Bereich von medizinischen Untersuchungen. Eine Computertomographie belaste den Körper mit 12 mSv, eine Mammographie mit 0,13 mSv und ein Röntgenthorax mit 0,08 mSv.

Neben der äußeren Strahlenbelastung war die Bevölkerung in den ersten Tagen und Wochen dem freigesetzten radioaktiven Jod ausgesetzt, das vor allem über die Milch aufgenommen wurde. Unstrittig ist, dass es zu einem Anstieg von Schilddrüsenkarzinomen bei Kindern gekommen ist. Begünstigt wurde dies nach Auskunft der WHO dadurch, dass die Region ein Jodmangelgebiet ist. Allein der Verzicht auf Milch in den ersten Wochen nach der Katastrophe hätte die meisten späteren Schilddrüsenkrebsfälle vermieden, heißt es in dem WHO-Bericht. 

Laut dem WHO-Bericht hat es bisher keinen Anstieg der Leukämierate in der Allgemeinbevölkerung gegeben. Bei den Liquidatoren rechnen die Experten nach neueren Studien mit einer Verdopplung der Leukämierate. In den am meisten kontaminierten Regionen gebe es möglicherweise auch einen leichten Anstieg der Brustkrebsrate, der allerdings noch in weiteren Studien bestätigt werden müsse.

Die Auswirkungen auf die Sterblichkeit lassen sich nach Ansicht der WHO nur schwer abschätzen. An den direkten Folgen einer Strahlenkrankheit starben 28 Liquidatoren. Es erscheint aber klar, dass dies nur die Spitze eines sehr viel größeren Eisbergs ist, den die WHO wie auch die IAEA auf etwa 4.000 Todesfälle unter den drei am meisten exponierten Gruppen (Liquidatoren, Evakuierte und Bewohner der hochkontaminierten SCZ) schätzt. Da in dieser Gruppe 120.000 Menschen auch ohne Tschernobyl an Krebs gestorben wären, sei mit einem Anstieg der Krebssterblichkeit um 3 bis 4 Prozent zu rechnen. Unter den 5 Millionen Bewohnern der gering kontaminierten SCZ rechnet die WHO mit 5.000 zusätzlichen Krebstodesfällen, was einem Anstieg der Krebstodesrate um 0,6 Prozent entspräche.

Greenpeace kommt zu ganz anderen Zahlen. Die Umweltschutzorganisation rechnet aufgrund eigener Berechnungen mit möglicherweise 270.000 zusätzlichen Krebserkrankungen und 93.000 zusätzlichen Krebstodesfällen. Bereits in den ersten 15 Jahren seien allein in Russland 60.000 Menschen zusätzlich gestorben, und in der Ukraine und Weißrussland kämen wohl noch einmal 140.000 Erkrankungen hinzu. Auch der IPPNW rechnet mit Zehntausenden von Toten und Hunderttausenden von Krebs- und anderen Erkrankungen. In einer neuen Pressemitteilung wird auch auf die möglichen teratogenen Folgen der Strahlung hingewiesen. Europaweit ist von 10.000 Fehlbildungen bei Säuglingen die Rede.

Welche Seite Recht hat, wird nicht eindeutig geklärt werden können. Auch zu den Spätopfern der Atombombenabwürfe des Zweiten Weltkriegs gibt es heute sehr unterschiedliche Schätzungen. Die jetzt vorgelegten umfangreichen Berichte dokumentieren vor allem die unterschiedliche Herangehensweise, wie ein erster Blick auf das Literaturverzeichnis zeigt. So findet sich keine einzige Studie aus den ersten beiden Kapiteln des WHO-Berichts im Greenpeace-Dokument wieder. Die Diskrepanzen gehen sogar so weit, dass ein identisches Diagramm zur Inzidenzrate der Schildrüsenkrebses (Fig. 3 im WHO-Dokument, und Fig. 2.1.1. im Greenpeace-Bericht) mit unterschiedlichen Quellen belegt wird. /rme © rme/aerzteblatt.de

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