Medizin
Lynch-Syndrom: ASS beugt Darmkrebs vor
Freitag, 28. Oktober 2011
Newcastle – Die tägliche Einnahme von Acetylsalicylsäure (ASS) hat in einer randomisierten klinischen Studie die Häufigkeit von Darmkrebserkrankungen bei Patienten mit Lynch-Syndrom deutlich gesenkt. Die Stiftung Cancer UK und der Medical Research betrachtet die im Lancet (2011; doi: 10.1016/S0140-6736(11)61049-0) die Ergebnisse in ersten Stellungnahmen als Grundlage für eine Therapieempfehlung.
Seit drei Jahrzehnten gibt es Hinweise, dass ASS die Bildung von Adenomen im Darm verhindert und dadurch einem Darmkrebs vorbeugen könnte. Die Evidenz stützt sich vor allem auf Studien, die seinerzeit zur Herzinfarktprävention durchgeführt wurden.
Trotz einer signifikanten Reduktion der Darmkrebsrate (um 24 Prozent) und der Darmkrebssterblichkeit (um 35 Prozent) in der jüngsten Meta-Analyse (Lancet 2010; 376: 1741-1750) hat sich die Empfehlung nicht durchsetzen können. Es wird befürchtet, dass bei einem breiten Einsatz in der Primärprävention die Nachteile durch eine erhöhte Rate von gastrointestinalen Blutungen überwiegen. Beim Herzinfarkt wird ASS heute nur in der Sekundärprävention empfohlen.
Eine ähnliche Entwicklung deutet sich beim Darmkrebs an. Insgesamt vier Studien haben gezeigt, dass ASS bei Patienten nach den Entfernung von Adenomen oder eines Kolorektalkarzinom die Bildung neuer Adenome vermindert (JNCI 2009; 101: 256-266). Jetzt liegen erstmals überzeugende Belege für eine präventive Wirkung bei Menschen vor, die aufgrund von Gendefekten ein deutlich erhöhtes Darmkrebsrisiko haben.
Das Colorectal Adenoma/carcinoma Prevention Programme 2 (CAPP 2) hat den Einsatz von ASS an Patienten mit hereditärem non-polypöse Kolonkarzinom (HNPCC) verglichen. Das HNPCC oder Lynch-Syndrom ist die häufigste erbliche Darmkrebsform. Die meisten Diagnosen werden aufgrund der Amsterdam- oder Bethesda-Kriterien klinisch gestellt.
Der wichtigsten Hinweise sind ungewöhnlich häufige oder im frühen Lebensalter auftretende Darmkrebserkrankungen in der Familie. Inzwischen gibt es auch Gentests, die aber nicht alle Fälle abdecken. Anders als bei der familiären adenomatösen Polyposis (FAP) werden bei der Koloskopie nicht auffällig viele Adenome gefunden. Dennoch ist das Lebenszeitrisiko beträchtlich.
Die Studie wurde zwischen 1999 und 2005 an 43 Zentren (mit deutscher Beteiligung) durchgeführt. 937 Patienten mit Lynch-Syndrom wurden auf eine Therapie mit ASS in der Tagesdosis von 600 mg oder Placebo randomisiert. Die Studie erprobte außerdem die Wirkung eines Stärkepräparats, die aber nicht Gegenstand der jetzigen Auswertung ist.
Die protektive Wirkung von ASS stellte sich erst spät ein. In der ersten Analyse nach einer medianen Behandlungszeit von 29 Monaten traten in beiden Studienarmen noch gleich viele Adenome oder Karzinome auf (NEJM 2008; 359: 2567-78).
In der aktuellen Auswertung nach einer medianen Beobachtungszeit von 55,7 Monaten können John Burn von der Universität Newcastle und Mitglieder erstmals eine präventive Wirkung zeigen: Von den 53 bisher diagnostizierten primären Kolorektalkarzinomen entfielen 34 auf den Placebo-Arm, aber nur 19 auf den ASS-Arm.
In der strengeren Intention-to-treat-Analyse (sie umfasst alle Patienten, für auf einen Arm randomisiert wurden) ergibt dies noch kein eindeutiges Ergebnis. Die Hazard Ratio HR von 0,63 verfehlte mit einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 0,35 bis 1,13 das Signifikanzniveau. Erst nach einer Poisson-Regression – sie berücksichtigt ein Ungleichgewicht bei Patienten mit mehreren Darmkrebserkrankungen – wurde eine signifikante Reduktion der Inzidenzrate (IRR) um 44 Prozent (IRR 0,56; 0,32–0,99) ermittelt.
Besonders deutlich und statistisch signifikant war die präventive Wirkung, wenn die Analyse auf Patienten beschränkt wurde, die mindestens 2 Jahre lang (Mindestdauer der Intervention) ASS eingenommen hatten.
Hier kam es im ASS-Arm bei 10 von 258 Teilnehmern zu einem Darmkrebs gegenüber 23 von 250 Teilnehmern im Placebo-Arm. Die Per-protocol-Analyse zeigt dann eine Reduktion um 59 Prozent (HR 0,41; 0,19–0,86; IRR 0,37; 0,18–0,78).
Die Per-protocol-Analyse ist zwar unter Statistikern umstritten, da nicht auszuschließen ist, dass Patienten mit einem ungünstigen Ausgang (etwa einer gastrointestinalen Blutung unter ASS) die Therapie vorzeitig abbrachen. Hierfür gibt es nach Einschätzung des Editorialisten Scott Lippman vom Anderson Cancer Center in Houston keinen Anhalt, da die Inzidenz von gastrointestinalen Blutungen, Ulzera oder Anämien sich in den beiden Therapiearmen nicht unterschied.
Obwohl der definitive Beweis einer präventiven Wirkung – in einer Intention-to-treat-Analyse – nicht erbracht wurde, spricht sich Lippman für den Einsatz aus, zumal er im Rahmen einer intensiven Darmkrebsfrüherkennung erfolgt, die bei diesen Patienten mittlerweile üblich ist.
Auch Cancer UK und das Medical Research Council, die neben Bayer zu den Sponsoren gehören, wiesen auf das hohe absolute Risiko hin. Langfristig entwickelten im Placebo-Arm 30 Prozent der Teilnehmer ein Kolorektalkarzinom, unter ASS waren es nur 15 Prozent.
Für den individuellen Patienten ist die Wahrscheinlichkeit auf einen Nutzen also groß. Der Presse gegenüber berichtete Burn auch von einer verminderten Rate von uterinen oder endometrialen Karzinomen. Diese Tumore treten bei Menschen mit HNPCC gehäuft auf, weil die zugrunde liegenden Gendefekte in allen Zellen des Körpers vorhanden sind.
Laut Burn könnten in Großbritannien in den nächsten 30 Jahren bei 30.000 Menschen mit Lynch-Syndrom circa 10.000 Krebserkrankungen und 1.000 Leben gerettet werden. Inzwischen hat die Nachfolgestudie CAPP 3 begonnen. Sie soll 3000 Patienten einschließen, bei denen das Lynch-Syndrom durch einen Gentest bestätigt wurde. Die Studie vergleicht verschiedene ASS-Tagesdosierungen (100 mg, 300 mg und 600 mg). Die Dauer der Studie beträgt 5 Jahre.
Offen ist weiterhin, ob auch Menschen ohne erhöhtes Darmkrebsrisiko von der Einnahme von ASS profitieren. Eine randomisierte Studie zu dieser Frage ist nach Einschätzung von Lippman derzeit nicht zu erwarten.
© rme/aerzteblatt.de

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