Medizin
ADHS: Genetischer Defekt in Glutamat-Signalweg
Montag, 5. Dezember 2011
Philadelphia – Fast ein Zehntel aller Patienten mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) haben genetische Veränderungen, die die Aktivität des Neurotransmitters Glutamat beeinflussen. Die genomweite Assoziationsstudie in Nature Genetics (2011; doi: 10.1038/ng.1013) lenkt die Aufmerksamkeit auf einen bisher unbekannten Pathomechanismus.
Obwohl die ADHS familiär gehäuft auftritt und Genetiker die Erblichkeit auf bis zu 90 Prozent schätzen, blieb die Suche nach den „ADHS-Genen“ lange erfolglos. Ein International Multicentre ADHD Genetics (IMAGE) und andere genomweite Assoziationsstudien (GWAS) konnte keine Genvarianten (SNP) aufspüren, die bei ADHS-Patienten gehäuft auftreten und die, so eine Hoffnung, einen Erklärungsansatz für die Erkrankung lieferten, deren Ursache im Dunklen liegt.
Dies änderte sich im letzten Jahr, als eine britische Arbeitsgruppe zeigte, dass einige ADHS-Patienten Abweichungen in den Copy Number Variants (CNV, Genkopiezahlvarianten) aufweisen. Viele Gene sind mehrfach im Erbgut vorhanden, und die Zahl der Genkopien beeinflusst die Aktivität der dort kodierten Gene. CNV-Varianten waren zuvor bereits mit Entwicklungsstörungen des Gehirns und Erkrankungen wie Schizophrenie und Autismus in Verbindung gebracht worden.
Die Gruppe um Anita Thapar von der Universität Cardiff berichtete damals im Lancet (2010; 376: 1401–08), dass ein Prozent aller ADHS-Kinder CNV aufwiesen gegenüber 7,5 Prozent der Kontrollen. Mit 42 Prozent besonders häufig waren die CNV bei ADHS-Patienten mit eingeschränkter Intelligenz. Aus der Assoziation der britischen Studie ergaben sich jedoch keine schlüssigen Konzepte für eine Pathophysiologie der Erkrankung.
Dies könnte bei der aktuellen Untersuchung der Arbeitsgruppe um Hakon Hakonarson vom Center for Applied Genomics des Children's Hospital of Philadelphia anders sein. Die Forscher verglichen die Gene von 1.013 Kindern mit ADHS und 4.105 gesunden Kindern. Alle Kinder waren europäischer Herkunft. Bei 3,66 Prozent der erkrankten Kinder fanden die Forscher bisher nicht bekannte CNV.
Die Häufigkeit mag gering erscheinen, da die CNV bei gesunden Kinder aber sehr viel seltener waren, ergeben sich hohe Odds Ratios, die eine Diagnose der Erkrankung beim Nachweis der CNV sehr wahrscheinlich machen. Die Forscher stießen außerdem auf eine Vielzahl weiterer Genvarianten, die zusammen mit den CNV die Häufigkeit von genetischen Veränderungen bei den ADHS-Kindern auf 9,94 Prozent erhöhten.
Alle Genvarianten beeinflussen den Glutamat-Stoffwechsel im Gehirn. Glutamat gehört zu den exzitatorischen Neurotransmittern und eine Änderung seiner Aktivität könnte die Symptome des ADHS durchaus plausibel erklären.
Die Studie öffnet nicht nur die Möglichkeit auf einen Gentest, der allerdings bei einer Zahl von mehr als 200 Genvarianten nicht praktikabel sein dürfte. Wichtiger erscheint, dass die Beteiligung des Glutamat-Stoffwechsels neue Ansätze in der Therapie der Erkrankung eröffnet.
Die bisherigen Medikamente wie Methylphenidat beeinflussen die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin. Nach Einschätzung von Hakonarson könnten auch selektive Glutamat-Agonisten wirksam sein. Wäre dies der Fall, was noch zu zeigen wäre, würde dies nebenbei auch die Bedeutung der von Hakonarson entdeckten Assoziation bestätigen.
© rme/aerzteblatt.de

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