Medizin
USA: 1,3 Millionen Überdiagnosen durch Mammographie
Donnerstag, 22. November 2012
Portland/Oregon – Eine Auswertung des US-Krebsregisters SEER zieht den Nutzen der Mammographie zur Brustkrebsfrüherkennung erneut infrage. Seit ihrer Einführung ist es laut der Publikation im New England Journal of Medicine (2012; 367: 1998-2005) nur zu einem geringen Rückgang der Spätdiagnosen gekommen, die die Mammographie vermeiden soll. Gleichzeitig verdoppelte sich die Zahl der Frühdiagnosen. Die Autoren schätzen den Anteil der Überdiagnosen auf 31 Prozent. In den letzten drei Jahrzehnten sei bei 1,3 Millionen Frauen unnötigerweise ein Brustkrebs diagnostiziert und vermutlich auch behandelt worden.
Die Gefahr von Überdiagnosen steht derzeit im Mittelpunkt einer intensiven Debatte um den Nutzen der Mammographie. Die Röntgenuntersuchung der Brust kann den Krebs zwar in einem frühen und fast immer heilbaren Stadium entdecken. Es befinden sich aber auch Tumoren darunter, die aufgrund ihres langsamen Wachstums oder einer spontanen Regression das Leben der Patientin niemals gefährden würden. Die Existenz dieser Überdiagnosen wird heute allgemein anerkannt. Umstritten ist jedoch, wie hoch ihr Anteil ist, und ob die Diagnose und Therapie dieser Tumoren das Nutzen-Risiko-Bilanz des Screenings infrage stellt.
Kritiker wie Peter Gøtzsche vom Nordic Cochrane Center in Kopenhagen gehen von einem hohen Anteil der Überdiagnosen aus, den sie in einer systematischen Übersicht auf 52 Prozent schätzten (BMJ 2009; 339: b2587). Ihrer Ansicht nach ist das Mammographie-Screening weitgehend nutzlos. Es gefährde sogar die Gesundheit der Frauen, da Überdiagnosen unnötige Ängste schüren und überflüssige Therapien auslösen würden.
Ein von der britischen Regierung beauftragtes Gutachten schätzte den Anteil der Überdiagnosen jüngst nur auf 19 Prozent. Danach käme es in Großbritannien durch das Screening jedes Jahr zu etwa 4.000 Überdiagnosen. Auf der anderen Seite würde aber jedes Jahr 1.400 Frauen durch die frühzeitige Diagnose und die Möglichkeit einer rechtzeitigen Therapie das Leben gerettet. Da keine Frau an einer Überdiagnose stirbt, rieten Gutachter der Regierung, das landesweite Screening fortzusetzen (Lancet 2012; 380; 1778-1786).
Archie Bleyer von der Oregon Health and Science University in Portland schätzt den Anteil der Überdiagnosen jetzt auf 31 Prozent. Der Forscher hat die Daten des US-Krebsregisters SEER (Surveillance, Epidemiology, and End Results) ausgewertet, das etwa ein Zehntel der Krebserkrankungen in den USA abdeckt. Die Publikation zeigt, dass es nach der Einführung der Mammographie ab Mitte der 80er-Jahre zu einem deutlichen Anstieg bei den Frühdiagnosen des Mammakarzinoms gekommen ist. Die Inzidenz ist seit 1976 von 112 auf 234 Fälle pro 100.000 Frauen gestiegen.
Dies ist an sich ein gutes Zeichen, wenn später der Anteil der Spätdiagnosen des Mammakarzinoms gesunken wäre. Die Inzidenz ging jedoch nur leicht von 102 auf 94 Fälle pro 100.000 zurück. Damit stehen 122 Überdiagnosen nur 8 Spätdiagnosen auf 100.000 Frauen gegenüber.
Hochgerechnet auf die US-Bevölkerung und unter Berücksichtigung der hohen Akzeptanz der Mammographie sowie der zeitlichen Trends (einschließlich des vorübergehenden Anstiegs der Diagnosen nach dem Ende der Hormonersatztherapie) kommt Bleyer auf die Zahl von 1,3 Millionen Überdiagnosen, zu denen es in den drei Jahrzehnten seit Einführung des Mammographiescreenings in den USA gekommen ist. Allein im Jahr 2008 sei bei mehr als 70.000 Frauen ein Mammakarzinom überdiagnostiziert worden, errechnet Beyer. © rme/aerzteblatt.de

An etwas werden wir sterben
Faktenboxen mögen etwas unterschiedliche Zahlen ausweisen, die Tendenz ist aber immer dieselbe: Die Sterblichkeitsrate ist sehr ähnlich, ob gescreent oder nicht gescreent (siehe z.B. Gerd Gigerenzer, Das Einmaleins der Skepsis, mit etwas „besseren“ Zahlen), die Überdiagnose beträgt gemäss aerzteblatt.de zwischen 20 und 50% (zwischen 2 und 5 Frauen würden mit dem Krebs, nicht am Krebs sterben, Zahlen nicht nur von Gøtzsche und Nielsen), 9 von 10 Frauen werden falsch-positiv diagnostiziert mit entsprechenden, schwer wiegenden und angstmachenden Nachbehandlungen (ergibt insgesamt etwa 10% der gescreenten Frauen, siehe Faktenbox), und die Untersuchungen von Gøtzsche und Nielsen beziehen sich auf eine Vielzahl von Untersuchungen (Metaanalysen). Auch andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Schlüssen (siehe z.B. Gigerenzer).
Ich bin Ihnen übrigens dankbar, wenn Sie mir eine Untersuchung zeigen könnten, deren Faktenbox ganz anders aussieht. Andere Quellen wie z.B. eine Broschüre der Bernischen Krebsliga, um auf andere Meinungen zu kommen, sprechen von einer Risikoreduktion von 25%: irreführender geht es wohl kaum, wird doch nicht erwähnt, dass es sich um eine relative Risikoreduktion handelt. Die absolute Risikoreduktion beträgt bei Gøtzsche und Nielsen 0.5 P r o m i l l e, bei Gigerenzer 1 Promille (Einmaleins der Skepsis), in anderen Untersuchungen, die ich nicht kenne, mag sie vielleicht 2 – 3 Promille betragen. Relative Risikoreduktionen sagen über den Nutzen überhaupt nichts aus.
Auch allenfalls steigende Prävalenz, Inzidenz und Mortalität bedeuten noch nicht, dass der Nutzen des flächendeckenden Mammografie-Screenings grösser geworden ist bzw. der Schaden kleiner.
Und noch etwas zum statistischen Bundesamt: Diese Ergebnisse sind zu hinterfragen, wie sie zustande gekommen sind. Schliesslich beruhen vermutlich diese Ergebnisse auf Meldungen der Ärzte. Ich persönlich habe im Bundesamt für Statistik (Schweiz) gearbeitet, und ich weiss, wie schwierig Mortalitätsraten infolge der Entwicklung von Messmethoden und einer veränderten Praxis der Ärzte zu interpretieren sind.
Im Weiteren empfehle ich Ihnen das aktuellste Buch von Gerd Gigerenzer: „Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“, erschienen 2013. Hier werden viele Irrtümer und haarsträubende Falschevidenzen in der Medizin und auf anderen Gebieten beschrieben.
Und zum Schluss: Wir fahren Auto und überqueren die Strasse ohne Angst, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben, viel grösser ist als an Brustkrebs (oder Prostatakrebs für Männer). Vor Krebs haben wir aber eine irrationale Angst. Sie haben Recht: An irgend etwas werden wir sterben, nur bringt das Früherkennungsscreening m.E. viel mehr Schaden als Nutzen. Aber jede Frau soll, aufgrund von F a k t e n und nicht von (leider meist falschen) Expertenmeinungen, frei entscheiden können. Wenn eine Frau sehr viel Angst hat, wird sie vielleicht am Mammografie-Screening teilnehmen und Überdiagnosen bzw. nachfolgende Untersuchungen, obwohl nicht nötig, in Kauf nehmen.

"Six feet under"
Die von Ihnen wiedergegebene Faktenbox bezieht sich einzig auf die Analysen von Peter Gøtzsche und M. Nielsen vom Nordic Cochrane Center in Kopenhagen. Anders lautende Meinungen werden weder dargestellt, andiskutiert noch problematisiert.
Weltweit steigen Prävalenz, Inzidenz und Mortalität maligner Mammatumor-Erkrankungen. Wenn Sie anführen, dass von 2.000 Frauen mit Screening 7 und ohne Screening 8 an Brustkrebs sterben, ist das nur die halbe Wahrheit. Alle 2.000 Frauen werden irgendwann nicht mehr am Leben sein. Und die Therapieverfahren bzw. deren verbesserte Optionen, n i c h t die (Früh-)Diagnostik allein sind entscheidend für die Überlebenswahrscheinlichkeit. Aber deshalb würde man ja auch die Spätdiagnostik nicht einstellen.
In der Medizin kommt es darauf an, die gesamte Lebensspanne möglichst langfristig o h n e Krankheit, Beschädigung, Behinderung und Siechtum zu ermöglichen, bzw. Remission, Palliation und Lebensqualität so lange wie möglich zu erhalten. D a r a u f zielte mein Titel: Lieber "overdiagnosed" als "undertreated"! ab.
Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

Verwechslung von Ueberlebensrate und Sterberate

Lieber "overdiagnosed" als "undertreated"!
Denn es besteht eine durchaus realistische Gefahr, dass mit weiterer Kritik an m. E. sinnvollem Mammografie-Screening die Teilnahmebereitschaft der Frauen verständlicherweise sinkt, die Brustkrebs-Mortalität wieder ansteigt und damit Kritiker wie Peter Gøtzsche vom Nordic Cochrane Center in Kopenhagen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ("self-fulfilling prophecy") auslösen.
Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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