Ausland
Venezuela: Der Krebs als Politikum
Dienstag, 15. Januar 2013
Köln – Selten hat eine Krankheit die Politik eines Landes so sehr bestimmt wie im Fall des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Seit bei dem 58-Jährigen Mitte 2011 ein Tumor diagnostiziert wurde, drehen sich die Debatten in dem südamerikanischen Land maßgeblich um zwei Dinge: um Chávez und den Krebs. Während die Anhänger des linksgerichteten Politikers für dessen Genesung beten, machen seine Gegner keinen Hehl aus der Hoffnung auf seinen Tod. In der polarisierten Situation werden medizinische Informationen zu Politika, Ärzte zu politischen Akteuren.
Viermal wurde Hugo Chávez operiert, seit der Tumor bei ihm Ende Juni 2011 diagnostiziert wurde. Politische Bedeutung bekam unmittelbar danach schon seine Entscheidung, sich in Kuba behandeln zu lassen – ein Affront gegen die venezolanische Ärzteschaft, die meist aus der Oberschicht stammt und mehrheitlich regierungskritisch eingestellt ist.
Wie es um den Präsidenten stand, wusste lange niemand
Die zunächst restriktive Informationspolitik über die Erkrankung hat bis zuletzt erheblich zu den medialen Spekulationen beigetragen. Zwar holte sich Chávez bei der Nationalversammlung mehrmals die Erlaubnis für Auslandsreisen zu Behandlungen ein, wie es genau um ihn stand, wusste jedoch lange ‧niemand. Das Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) warf der Regierung eine Verschleierungstaktik vor, zumal sich Chávez im Oktober 2012 erneut zur Wahl stellte – und mit deutlichem Vorsprung vor seinem Herausforderer Henrique Capriles gewann. In den meist regierungskritischen Privatmedien Venezuelas wurde daraufhin die Frage aufgeworfen, ob sich der erkrankte Präsident überhaupt hätte zur Wahl stellen dürfen.
Angesichts der zunächst spärlichen Informationen brodelte die Gerüchteküche. Nach der ersten Krebsoperation erklärte der Präsident unter Rückgriff auf einen landestypischen Vergleich lediglich, ihm sei „ein Tumor in der Größe eines Baseballs aus dem Hüftbereich entfernt“ worden. Vor allem die rechtskonservative spanische Tageszeitung „ABC“ profilierte sich seither mit fragwürdigen Berichten über den Gesundheitszustand von Chávez.
Das Blatt führte mehrere Interviews mit dem venezolanischen Arzt José Rafael Marquina, der im US-Bundesstaat Florida eine „Schlafklinik“ betreibt. Seit 2011 hatte Marquina unter Berufung auf anonyme Quellen mehrfach den Tod von Chávez (und Fidel Castro) vorausgesagt. Mit beidem lag er bislang falsch, doch die Aufmerksamkeit war gesichert. Als die Zeitung „ABC“ Anfang Januar erneut ohne Quellenangabe über ein „künstliches Koma“ berichtete, in das Chávez versetzt worden sei, fand diese Meldung rasende Verbreitung.
Während Vizepräsident Nicolás Maduro eine „psychologische Kriegsführung“ oppositioneller Medien beklagt, hat die Regierung in Caracas zuletzt auf eine deutlich offenere Informationspolitik umgeschwenkt. In etwa zwei Dutzend Kommuniqués berichteten Maduro oder Informationsminister Ernesto Villegas fast täglich über den Gesundheitszustand des Präsidenten. Dessen Zustand sei stabiler, hieß es Ende Dezember, bis die Regierung kurz vor Jahreswechsel von einer postoperativen Pneumonie mit einhergehender Atemnot berichtete. Die im Zentrum von Caracas geplanten offiziellen Silvesterfeiern wurden daraufhin abgesagt. Stattdessen strömten Anhänger der Regierung in die Kirchen, um für das Wohlergehen des Revolutionsführers zu beten.
Die Opposition will Chávez’ Gesundheitszustand prüfen
Das Parteienbündnis MUD will sich mit den Informationen nicht zufriedengeben. Der oppositionelle Bürgermeister von Caracas, Antonio Ledezma, schlug die Formierung einer Kommission aus Politikern seines Lagers und „professionell und moralisch verlässlichen Ärzten“ vor, um in Kuba den Gesundheitszustand des Präsidenten zu überprüfen. Hintergrund der Initiative war die für den 10. Januar vorgesehene Vereidigung von Chávez vor der Nationalversammlung in Caracas.
Der Termin wurde angesichts der Probleme nach dem Eingriff zwar verschoben, sollte sich jedoch herausstellen, dass Chávez das bei den Wahlen verteidigte Amt aus gesundheitlichen Gründen nicht antreten kann, müssten binnen 30 Tagen Neuwahlen angesetzt werden. Ohne seine Führungsfigur hofft die Opposition dann auf ein Ende des „Chavismus“.
Das wird es wohl aber in absehbarer Zeit nicht geben. Mitte Januar berichteten Regierungsquellen über eine leichte Verbesserung der Gesundheit von Chávez, der mit der Regierungsspitze in Verbindung stehe. Unbegrenzt aber wird Venezuela nicht vom Krankenbett aus Havanna regiert werden können. Die Nationalversammlung hat dem Präsidenten einen maximal 90 Tage währenden Aufenthalt im Ausland genehmigt. Die Hälfte dieser Zeit ist bald verstrichen. © neu/aerzteblatt.de
