Medizin
Warum ein gesunder Lebensstil Diabetiker nicht vor Herzinfarkten schützte
Dienstag, 25. Juni 2013
Pittsburgh – Lohnt sich die Mühe einer Diät für Typ-2-Diabetiker überhaupt? In der Look AHEAD-Studie, der bisher größten und längsten Interventionsstudie zur Lebensstilberatung konnten die Diabetiker dank einer intensiven Intervention ihr Körpergewicht deutlich reduzieren. Doch die erhoffte protektive Wirkung auf kardiovaskuläre Erkrankungen blieb auch nach mehr als zehn Jahren aus. Anlässlich der Jahrestagung der American Diabetic Association in Chicago wurden die enttäuschenden Ergebnisse jetzt im New England Journal of Medicine (2013; doi: 10.1056/NEJMoa1212914) veröffentlicht.
An der Look AHEAD-Studie (Action for Health in Diabetes) hatten seit 2001 an 16 US-Zentren 5.145 übergewichtige oder adipöse Menschen mit Typ 2-Diabetes teilgenommen. Der Hälfte der Teilnehmer wurde ein intensives Lebensstilinterventionsprogramm angeboten. Die Diabetiker wurden in Gruppensitzungen und teilweise auch in Einzelgesprächen angehalten, nicht mehr als 1.200 bis 1.800 Kilokalorien pro Tag zu sich zu nehmen mit einem Anteil der Fette von unter 30 Prozent und der Proteine von über 15 Prozent.
Dazu sollten sie mindestens 175 Minuten in der Woche Sport treiben. Das Programm war im ersten Jahr sehr erfolgreich. Die Patienten verloren 8,5 Prozent ihres Gewichts (gegenüber einer Reduktion von nur 0,7 Prozent in der Kontrollgruppe, in der nur Informationsmaterialien ausgegeben wurden) und die Taille (minus 8 cm) nahm deutlich ab. Auch die Fitness stieg (um mehr als 1 Metabolisches Äquivalent). Die Diabetologen konnten zufrieden sein: Der HbA1C-Wert war auf durchschnittlich 6,6 Prozent gefallen.
Aber das Engagement der Teilnehmer ließ bereits im zweiten Jahr wieder nach. Wie Rena Wing, Brown University in Providence/Rhode Island, und Mitarbeiter berichten, nahmen Körpergewicht und Taille langsam wieder zu, die körperliche Fitness ging zurück und infolgedessen kam es zu einem Wiederanstieg des HbA1c-Werts. Er lag am Ende bei 7,2 Prozent und nur knapp unter den Werten in der Kontrollgruppe.
Dort hatte sich die diabetische Stoffwechsellage im Verlauf der Studie leicht verschlechtert, obwohl die Teilnehmer auch hier einige Kilo abgespeckt hatten. Am Ende reichte der Unterschied nicht aus, um den primären Endpunkt der Studie, ein Composite aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt, Schlaganfall oder einer Hospitalisierung wegen pektanginöser Beschwerden zu senken.
Der Endpunkt trat im Interventionsarm bei 403 Patienten und in der Kontrollgruppe bei 418 Patienten auf, was einer Reduktion um 9 Prozent entsprach. Die Hazard Ratio von 0,95 verfehlte bei einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 0,83 bis 1,09 klar das Signifikanzniveau, und selbst wenn die Reduktion statistisch eindeutig gewesen wäre, hätte man kaum von einem Erfolg sprechen können. Den US-National Institutes of Health, die die Studie gesponsert hatten, blieb im September 2012 bei einer Zwischenauswertung keine andere Möglichkeit, als die Studie abzubrechen.
Ist das Experiment Lebensstilintervention damit gestorben? Der Editorialist Hertzel Gerstein von der McMaster University in Hamilton/Ontario glaubt, einige Unterschiede zwischen den beiden Gruppen entdeckt zu haben, die das Scheitern erklären könnten. So hätten die Patienten im Interventionsarm seltener Medikamente mit kardioprotektiven Eigenschaften (z.B. ACE-Hemmer, Statine und Metformin) erhalten, doch die Unterschiede in Tabelle S1 im Appendix der Studie waren zu gering, um dies zu einem überzeugenden Argument zu machen.
Auch die Hoffnung, dass die Studiendauer von zehn Jahren möglicherweise zu kurz war, um einen Vorteil erkennen zu können, wirkt nicht unbedingt überzeugend, da in klinischen Studien zum Diabetes früher Effekte beobachtet werden. Immerhin sollen die Teilnehmer noch einige Jahre beobachtet werden, um etwaige Späteffekte nachweisen zu können.
Diät lohnt sich dennoch
Gerstein kann aber darauf verweisen, dass sich die Mühe einer Diät für Diabetiker lohnt. Wenn sie ihren Lebensstil auf Dauer ändern, was die Teilnehmer der Look AHEAD-Studie nur bedingt schafften, können die Reduktion von Körpergewicht und Blutzucker die Symptome ihrer Schlafapnoe mildern und ihren Gesundheitszustand verbessern.
Sie könnten den Bedarf und die Kosten für Medikamente, die US-Patienten häufig selber zahlen müssen, senken und vielleicht sogar den Diabetes besiegen. Wichtig und derzeit nicht ausreichend untersucht wäre auch eine Auswirkung auf andere Spätkomplikationen des Diabetes wie Neuro- und Nephropathie oder die Veränderungen an der Retina.
Ein weiterer Vorteil und Motivator für die Patienten könnte eine Verbesserung des Sexuallebens sein. Dies gilt laut einer weiteren Publikation von Wing und Mitarbeitern nicht nur für die männlichen Diabetiker, die aufgrund ihrer Erkrankung häufig unter einer erektilen Dysfunktion leiden, sondern auch für Frauen. Zu Beginn der Studie klagte jede zweite der sexuell aktiven Frauen unter einer sexuellen Dysfunktion, die mit dem Female Sexual Function Inventory, FSFI, erfragt wurde.
Die Lebensstilintervention verbesserte den FSFI-Score und erhöhte den Anteil der Frauen, die sexuell aktiv blieben. Die in Diabetes Care (2013; doi: 10.2337/dc13-0315) veröffentlichten Ergebnisse geben allerdings nur den Stand nach dem ersten Jahr der Intervention an, als Gewichtsreduktion und der Fitness-Gewinn am größten waren. © rme/aerzteblatt.de

"Look back" statt "Look AHEAD"
Wie kann man denn 5.145 Patienten von 2001 bis 2004 mit Typ-2-Diabetes mellitus (T2Dm) einschreiben, die damals schon zwischen 45 und 75 Jahre alt waren, einen BMI von 25 und mehr, bzw. 27 und mehr bei Insulinpflicht hatten und einen HbA1c von bis zu 11,0 (!) aufwiesen? ["(BMI) of 25.0 or more (27.0 or greater in patients taking insulin); a glycated hemoglobin level of 11% or less; ..."From August 2001 through April 2004, a total of 5145 patients"]
Und gutgläubig erwarten, dass nach durchschnittlich 9,6 Jahren bis zum Studienabbruch sich bei "intensiver Lebensstil-Intervention" ["intensive lifestyle intervention"] gegenüber konventionell-optimierter Diabetes-Therapie ["diabetes support and education"] ausgerechnet die pathophysiologischen E n d s t r e c k e n mit kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität verbessern könnten? ["stopped on September 14, 2012, the median follow-up was 9.6 years"]. In Selbst-Überschätzung hatte man bei einer Simulationsrechnung mit 80 prozentiger Wahrscheinlichkeit mit bis zu 18 Prozent Verbesserung bei den Endpunkten in der Interventionsgruppe gerechnet. ["that an enrollment of 5000 patients would provide a power of more than 80% to detect a between-group difference of 18% in the rate of major cardiovascular events"]
Auch wenn die durchschnittliche Diabetes-Dauer v o r Einschreibung nur 5 Jahre betragen, das Durchschnittsalter bei 58,7 gelegen, der mittlere BMI 36 ergeben bzw. der Frauenanteil bei 60 Prozent gelegen hatten, und der Studien "drop-out" unter 4 Prozent betrug, wurde n i c h t berücksichtigt, dass die Anlagen zu T2Dm in Form des metabolischen Syndroms mit Insulinresistenz, Hypertonie, Bewegungsmangel, Fehlernährung und Übergewicht pathophysiologisch schon lange v o r h e r kardiovaskulär negativ eingewirkt hatten. ["average age was 58.7 years, 60% of the patients were women, and the mean body-mass index was 36.0. The median duration of diabetes was 5 years ...and less than 4% of all patients randomly assigned to a study group had been lost to follow-up."]
In diesem Kontext bleibt der Effekt von 6 Prozent Gewichtsverlust (Interventionsgruppe) und 3,5 Prozent (Kontrollgruppe) zwar signifikant aber dennoch marginal. ["When the study ended, the mean weight loss from baseline was 6.0% in the intervention group and 3.5% in the control group."] Selbst 100 kg "Leichtgewichte", aus dem Intensiv-Arm dieser Studie auf 94 kg "abgemagert", könnten doch beim besten Willen n i c h t gegen die auf nur 96,5 kg "abgespeckten" Frauen und Männer der T2Dm Vergleichsgruppe bezüglich des kardiovaskulären Risikos in irgendeiner Weise punkten.
Mein persönliches Fazit aus dieser Studie: Ein Unterschied von wenigen Kilos nach einem langwierigen, intensiven Versuch einer Lebensstiländerung, der im BMI ausgedrückt, etwa einen e i n z i g e n BMI-Punkt ausmacht, mag zwar signifikant sein, ist aber klinisch keineswegs relevant. Reduktion von kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität bei unseren Typ-2-Diabetikern erfordert m e h r als nur "soft-skills" einer Lebensstil-Intervention: Hier sind z u s ä t z l i c h e differenzierte antidiabetische Medikation, Schulung bzw. multidimensionale Diagnose und Therapie von Begleiterkrankungen oder spezifischen Risikomerkmalen erforderlich. Dies hat offensichtlich bei dieser Studie in b e i d e n Behandlungsarmen stattgefunden, wurde aber bei der Ergebnisdiskussion fast vergessen. Trotz alledem bleibt Diabetes als Zivilisationskrankheit jetzt und in Zukunft d i e große Herausforderung.
Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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