Medizin
Chronisches Erschöpfungssyndrom: Studie findet frühe „Immunsignatur“
Montag, 2. März 2015
New York – Das chronische Erschöpfungssyndrom, das nach einem Vorschlag des Institute of Medicine (IOM) künftig „systemic exertion intolerance disease” (SEID) genannt werden soll, hinterlässt möglicherweise doch Spuren im Immunsystem. US-Forscher beschreiben in Science Advances (2015; 1: e1400121) signifikante Veränderungen in mehreren Zytokinen, die auf eine erhöhte Immunantwort in den ersten drei Jahren hindeuten. Die Forscher sprechen von dem ersten Beleg für eine organische Genese der Erkrankung und der Aussicht auf einen Labortest.
Viele Patienten bezeichnen das Chronische Müdigkeitssyndrom (CFS) als Myalgische Enzephalomyelitis (ME), um sich gegen die verbreitete Einstufung als psychosomatische Erkrankung zu wehren. Doch einen Labortest oder irgendein objektivierbares Krankheitszeichen gibt es nicht. Wie bei psychiatrischen Leiden beruht die Diagnose allein auf den Schilderungen der Patienten.
Das Leitsymptom ist laut IOM eine substanzielle Einschränkung im Alltagsleben, die mit einer Erschöpfung nach Anstrengungen („post-exertional malaise“) und einem nicht erholsamen Schlaf („unrefreshing sleep“) einhergeht. Einige Patienten klagen zusätzlich über kognitive Einschränkungen oder orthostatische Störungen, die das IOM als Nebenkriterien der Diagnose betrachtet.
Es hat in den letzten Jahrzehnten nicht an Versuchen gemangelt, eine organische Genese zu belegen. Vor einigen Jahren schien es sogar, als würde die Erkrankung durch ein Retrovirus ausgelöst. Doch die Berichte über den Nachweis eines „xenotropen murinen Leukämie-Virus“ (XMLV) im Blut der Patienten konnten nicht reproduziert werden und gelten heute als widerlegt.
Ein Team um Ian Lipkin von der Columbia Universität in New York, der damals an den Überprüfungen beteiligt war, hat jedoch die archivierten Blutproben erneut ausgewertet und ist dabei auf eine auffällige „Immunsignatur“ gestoßen. Bei den 52 von 298 Patienten, die innerhalb der ersten drei Jahre nach Einsetzen der Symptome untersucht wurden, fanden sie auffällige Abweichungen zu 348 gesunden Kontrollen.
Sie betrafen vor allem einen Anstieg von Interferon gamma, der mit einer Odds Ratio OR von 104 (95-Prozent-Konfidenzintervall 6,9-1574,0) ins Auge sticht. Interferon gamma wird typischerweise nach Virusinfektionen vermehrt gebildet. Dazu gehört das Epstein-Barr Virus, das mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom oder jetzt SEID in Verbindung gebracht wurde, ohne dass je ein schlüssiger Beweis geführt werden konnte.
Der Anstieg von Interferon gamma war in der aktuellen Studie auf die ersten drei Jahre beschränkt. Danach war die Konzentration niedriger als in der Kontrollgruppe. Leitautorin Mady Hornig, ebenfalls von der Columbia Universität, deutet diesen Abfall als Zeichen einer Erschöpfung des Immunsystems, das die langfristigen Symptome erklären könnte. Der langfristige Abfall von Interferon gamma war jedoch nicht signifikant. Nach schweren Viruserkrankungen ist eine Erschöpfung mit einem vorübergehenden Anstieg von Interferon gamma (und anderer Zytokine) nicht ungewöhnlich. Die Besonderheit des SEID besteht darin, dass sich die Patienten nicht wieder erholen.
Die ersten Reaktionen anderer Experten fielen verhalten aus. Peter White von der Queen Mary University of London wies gegenüber der BBC darauf hin, dass die Forscher die Konzentration von insgesamt 51 Immunproteinen bestimmt haben. Abweichungen des einen oder anderen Parameters könnten trotz der deutlichen Odds Ratio ein reiner Zufallsbefund sein, meint White. Dies wissen auch Hornig und Lipkin, die deshalb versuchen wollen, ihre Ergebnisse in weiteren Kohorten zu bestätigen.
Die bisherigen Erfahrungen mit wissenschaftlichen „Durchbrüchen“ in der Erforschung des SEID - zuletzt zur Virusgenese mit XMLV - mahnen zur Zurückhaltung. Der Leidensdruck hat in den USA zur Bildung von Patientenorganisationen geführt, die die Forschung sponsern. Die Forscher stehen dann unter einem gewissen Druck positive Forschungsergebnisse zu präsentieren.
Bei der XMLV-Affäre sah sich eine Forscherin (Judy Anne Mikovits) dem Vorwurf der Datenmanipulation ausgesetzt, die sogar eine Verhaftung zur Folge hatte. Das Verfahren gegen die Forscherin wurde später aber wieder eingestellt. © rme/aerzteblatt.de

Irgendwie haben alle recht!

Es stimmt doch garnicht, dass es kein 'objektivierbares Krankheitszeichen' gibt

Weitere Studie: "Cytokine network analysis of cerebrospinal fluid in myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome"
http://medicalxpress.com/news/2015-03-scientists-clues-cognitive-dysfunction-chronic.html
"We now know that the same changes to the immune system that we recently reported in the blood of people with ME/CFS with long-standing disease are also present in the central nervous system," says Dr. Hornig.

95% somatoforme Störung?
Sie kennen sicher das Schreiben der Ärztekammer Nordrhein von 1993 an den Kollegen Dr. B. aus Velbert. Es ist im Internet verfügbar. Zitat:
„Die Ärztekammer Nordrhein ist bemüht, Gutachter zu finden, die die neue Krankheit «Chronisches Müdigkeitssyndrom» wissenschaftlich entkräften und die äußerst teuren Diagnose- und Behandlungsmethoden widerlegen können.
Dieses Unterfangen hat sich als äußerst problematisch herausgestellt.
Wir möchten Ihnen jedoch versichern, dass wir zusammen mit anderen zuständigen Behörden und Gesellschaften versuchen werden, dieses "Problem“ in den Griff zu bekommen.“
Das ist der Stand bis heute. Unterstützen Sie die Bemühungen, das "Problem in den Griff zu bekommen"? Ich hoffe nicht!

Nana...
das CFS als Diagnose nach der ICD-10 beschreibt chronische Müdigkeit im Zusammenhang mit fassbaren Funktionsstörungen des Immunsystems, des ZNS, des vegetativen Nervensystems und einer ganzen Reihe weiterer Items.
Ca 95% der von Patienten "reklamierten" CFS-Fälle verfehlen jedoch - zumindest in meiner Praxis - die notwendigen Kriterien für die Diagnose, wenn man die diversen klinischen Skalen heranzieht.
"Echtes" CFS ist m.E. eine Rarität, die übrigen Fälle sind eher den somatoformen Störungen zuzurechnen

Practicus, einen Merksatz haben Sie unterschlagen
Wissen, es ist Bier im Kühlschrank, aber behaupten, es sei keines drin - das ist Lüge.
Dies ist, im übertragenen Sinne, genau die Faktenlage, die Millionen Patienten zum Verhängnis wurde. Man weiß seit den ersten wissenschaftlichen Studien in Deutschland (PubMed!) Anfang bis Mitte der 90er Jahre, dass CFS (ME) eine Erkrankung organischer Genese ist.
(Eigentlich sollte ich die unsachlichen Beiträge von Ihnen und User malledoc unbeachtet lassen.)

Esoterik...
Merke:
Vermuten, es ist Bier im Kühlschrank, Kühlschrank aufmachen und nachsehen - das ist Wissenschaft
Behaupten, es ist Bier im Kühlschrank, ohne nachzusehen - das ist Glaube
Den Kühlschrank aufmachen, sehen er ist leer, in wieder zumachen und behaupten: Irgendwie ist doch Bier im Külschrank - das ist Esoterik

Re: Unwissenschaftliche Frage

Psychiater Experten für eine physische Erkrankung?
Auffälligkeiten im Immunsystem sind schon lange bekannt, nur finden sie keinerlei Beachtung. Warum nicht? Der Durchschnittsmediziner kann mit ME überhaupt nichts anfangen, wird auch die Diagnose deshalb nie stellen.
Sollte er, zum Übel des Patienten, dann auch noch in die "Leitlinie Müdigkeit" schauen, wird dem Patient auch noch die so dringend nötige immunologische Laboruntersuchung verweigert
Zitat aus der LL: "Nicht ausreichend begründet − außer bei spezifischen Hinweisen in Anamnese und Befund − sind folgende in diesem Kontext oft vorgeschla- genen Untersuchungen: Blutdruckmessung, Serumeisen/Ferritin (nur indi- ziert bei Nachweis einer Anämie), immunologische Untersuchungen, ab- dominelle Ultraschalluntersuchung. Je mehr Laboruntersuchungen veran- lasst werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für eine Abweichung von der Norm aus rein statistischen Gründen, ohne dass eine diagnosti- sche Relevanz gegeben wäre."
Interessante These, "je mehr Laboruntersuchungen macht, desto höher die Wahrscheinlichkeit, für eine Abweichung von der Norm" - und deshalb sollte der Arzt doch bitte ganz davon absehen, es sei nicht hinreichend begründet.
Dann wundert sich die Ärzteschaft, warum schwerkranke ME Patienten sich vehement dagegen wehren, in die Psycho-Schublade gesteckt zu werden. Man verweigert ihnen Laboruntersuchungen, mit dem Hinweis, es könnte sich eine Abweichung der Norm ergeben. Das haben nun einmal Laboruntersuchungen so an sich, dass man gerade danach sucht!
Wie man an dieser Studie sieht, findet man sogar eindeutige Belege.

Ein morsches Konstrukt bricht zusammen
1. Widmet man sich dem Problem ME/CFS mit einer dynamischen Netzwerkanalyse von Genom, Proteom und Metabolom unter Beachtung der Fähigkeiten von Erregern und anderer Umweltfaktoren, dann gestalten sich die Versuche durchaus erfolgreich – auch hinsichtlich Therapieoptionen.
Es ist allerdings in der Natur der Sache begründet, dass hierfür die Sichtweise der Personalized Medicine erforderlich ist, denn aufgrund heterogener pathologischer Vorgänge mündet die grob homogene Sichtweise der Evidence-based Medicine regelmäßig in einer Sackgasse. (Die Frage lautet bildhaft: Axt (EbM) oder Laserskalpell (PM)?) Ergebnisse einschlägiger, seriöser Studien sind zwar häufig richtig, öffnen den Kritikern allerdings mangels ausreichend großer Zahlen Tür und Tor für (unberechtigte) Zweifel. Auch wenn gerne das Gegenteil suggeriert wird, ist die vordergründige Forderung der EbM nach großen Zahlen zwangsläufig die Ursache für eine Senkung des wissenschaftlichen Anspruchsniveaus auf dem Forschungsfeld ME/CFS sowie vieler anderer chronischer Erkrankungen, nicht umgekehrt.
2. Noch viel interessanter als der Beweis der organischen Genese sind in diesem Kontext jedoch die gescheiterten Versuche, ME/CFS unter somatoforme Störungen zu subsumieren. Der größte Skandal in Deutschland ist wohl das Positionspapier der Ärztekammer Nordrhein (Diagnostik und Therapie des chronischen Erschöpfungssyndroms (CFS) und verwandter Erkrankungen). Im letzten Jahr wurde das Unheil stiftende Papier aufgrund einer erdrückend eindeutigen Replik endlich zurückgezogen - nach 14 Jahren. Das Papier strotzte nur so vor wissenschaftlichen Fehlern. Die Literaturauswahl war höchst selektiv, um nicht zu sagen ergebnisorientiert, und es wurden darüber hinaus Literaturquellen angegeben, die beim genauen Hinsehen sogar diametral zu den aufgestellten Behauptungen standen. Der gesamte Vorgang der Rücknahme bis zum heutigen Stand, inkl. der besagten Replik, ist nachzulesen unter: http://www.patientenlobby.net/recht/patientenlobby-fordert-die-ruecknahme-des-positionspapiers-cfs-der-aerztekammer-nordrhein/
Zitat: „Die ersten Reaktionen anderer Experten fielen verhalten aus. Peter White von der Queen Mary University of London…”
Es ist sehr vermessen, ausgerechnet Peter White zu zitieren. Ähnlich den Autoren des Positionspapiers der ÄkNo hat er sich als höchst unseriös erwiesen. Ich erinnere z.B. an die legendären PACE-Trials, die im Auftrag der Britischen Regierung von White, Wessely und Sharpe verfasst wurden und die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) und gesteigertem körperlichem Training (GET) bei CFS belegen sollten. Abgesehen davon, dass sich diese Therapieversuche bei CFS-Kranken längst als Körperverletzung erwiesen haben, musste White gegenüber Prof. Malcom Hooper schlussendlich eingestehen, dass die PACE-Trials überhaupt kein CFS zum Gegenstand hatten. Hooper deckte den Schwindel der Londoner Psychiatergruppe in einer 422-seitigen Kritik auf. http://www.meactionuk.org.uk/magical-medicine.pdf
Zitat: „Bei der XMLV-Affäre sah sich eine Forscherin (Judy Anne Mikovits) dem Vorwurf der Datenmanipulation ausgesetzt, die sogar eine Verhaftung zur Folge hatte. Das Verfahren gegen die Forscherin wurde später aber wieder eingestellt.“
Was bezweckt das DÄ mit dem nochmaligen Aufwärmen einer Anschuldigung, die sich als unhaltbar erwies?

"Remarkably little research funding has been made available" (IOM)
Weitere Anmerkungen:
Sie schreiben:
1) "Es hat in den letzten Jahrzehnten nicht an Versuchen gemangelt, eine organische Genese zu belegen."
Die Forschungsgelder, die für ME/CFS bereit gestellt werden, gehören zu den niedrigsten überhaupt: Die NIH hat 2013 ungefähr 5 Mio. Dollar für die Erforschung von ME/CFS bereitgestellt, eine Krankheit, die von der CDC als ähnlich schwer wie Lupus oder Nierenversagen eingestuft wird (http://www.cdc.gov/cfs/symptoms/). Damit lag die Krankheit auf Platz 226 von insgesamt 237 Krankheiten: http://report.nih.gov/categorical_spending.aspx
Auch das von Ihnen zitierte IOM spricht in seinem Bericht von einem Mangel an Forschung: "Although there was sufficient evidence with which to carry out the
first steps of its task, the committee was struck by the relative paucity of
research on ME/CFS conducted to date. Remarkably little research funding
has been made available to study the etiology, pathophysiology, and
effective treatment of this disease, especially given the number of people
afflicted." (IOM-Report, http://www.iom.edu/Reports/2015/ME-CFS.aspx)
Und dennoch kommt das IOM zu folgendem Schluss: "Many health care providers are skeptical about the seriousness of ME/CFS, mistake it for a mental health condition, or consider it a figment of the patient’s imagination. Misconceptions or
dismissive attitudes on the part of health care providers make the path to diagnosis long and frustrating for many patients. The committee stresses
that health care providers should acknowledge ME/CFS as a serious illness that requires timely diagnosis and appropriate care." (http://www.iom.edu/~/media/Files/Report%20Files/2015/MECFS/MECFS_ReportBrief.pdf)
Sie schreiben:
2) "Der Leidensdruck hat in den USA zur Bildung von Patientenorganisationen geführt, die die Forschung sponsern. Die Forscher stehen dann unter einem gewissen Druck positive Forschungsergebnisse zu präsentieren."
Gibt es Hinweise darauf, dass sich die Studienautoren Lipkin und Hornig unter Druck gesetzt fühlten, positive Forschungsergebnissen zu präsentieren? Ihre Forschung wurde von einer Stiftung finanziert.

Der Zytokin-Anstieg wird über drei Jahre, nicht drei Monate beobachtet!
"GLM comparison of short-duration ME/CFS cases (≤3 years, n = 52), long-duration ME/CFS cases (>3 years, n = 246), and controls (n = 348) (with and without sex and age included in the models) showed significant differences for more than half of the 51 cytokines (tables S4 to S6). Follow-up t tests showed that short illness duration subjects generally had higher cytokine levels than controls or long-duration cases"
http://advances.sciencemag.org/content/1/1/e1400121
Wir haben den Text korrigiert. Herzlichen Dank für den Hinweis.
Redaktion DÄ

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