Medizin
„Mini-Gehirne“ aus Hautzellen erklären Autismus
Sonntag, 19. Juli 2015
New Haven – US-Forscher gehen bei der Suche nach den genetischen Ursachen autistischer Störungen neue Wege. Statt wie bisher das Genom der Patienten zu untersuchen, entnehmen sie ihnen Hautzellen, die über den Weg induzierter pluripotenter Stammzellen (iPS) im Labor in kleine „Gehirn-Organoide“ differenziert werden. In Cell (2015; doi: 10.1016/j.cell.2015.06.034) stellen sie erste Ergebnisse vor.
Die meisten Hirnforscher gehen davon aus, dass autistische Erkrankungen auf Entwicklungsstörungen des Gehirns zurückzuführen sind. Eine Ursache wären genetische Veränderungen. Doch in den bisherigen aufwändigen Genom-Analysen wurden allenfalls bei 1 bis 2 Prozent der Patienten verdächtige Mutation entdeckt, die allein die komplexe Erkrankung nicht erklären können.
Ein Team um Flora Vaccarino von der Yale School of Medicine in New Haven geht deshalb den entgegengesetzten Weg: Sie entnehmen den Patienten und (zum Vergleich) ihren Angehörigen Hautproben, aus denen sie die Fibroblasten isolieren. Diese werden dann mit Hilfe von Retroviren in iPS-Zellen verwandelt. Diese Stammzellen werden anschließend im Labor in Zellen des Telenzephalons differenziert, dem embryonalen Vorläufer des Großhirns, wo die Störungen vermutet werden, die zum Autismus führen.
Von „Mini-Gehirnen“ zu sprechen, ist eine Übertreibung. Die Zellkulturen, die in den Petrischalen der Forscher wachsen, sind nur weniger Millimeter groß, sie formieren sich allerdings zu kleinen Organoiden. Laut Vaccarino stellen sie die ersten Wochen der intrauterinen Hirnentwicklung nach. Die Forscher untersuchen dann das Transkriptom, die Summe aller zu einem Zeitpunkt abgelesenen Gene in einer Zelle.
Bislang wurden vier Familien untersucht. Um die Chancen auf die Entdeckung von Veränderungen zu erhöhen, haben die Forscher ihre Untersuchung auf eine Untergruppe von Patienten mit einem Merkmal beschränkt, das mit einem schweren Krankheitsverlauf einhergeht. Etwa ein Fünftel aller Autismus-Patienten haben eine Makrozephalie, sprich ein ungewöhnlich großes Gehirn (ohne dass dies ein Zeichen einer erhöhten Intelligenz ist, die bei Patienten mit schweren Formen des Autismus meist vermindert ist.)
Nicht ganz überraschend zeigte die Untersuchung, dass der Zellzyklus der Nervenzellen in den Organoiden verkürzt war. Die Vorläufer der Großhirn-Neurone teilten sich schneller als erwartet, was die Makrozephalie erklären könnte. Das Wachstum war überwiegend auf eine Überproduktion von GABAergen Neurone zurückzuführen, die die Aktivität anderer Neurone hemmen.
Die Zahl der exzitatorischen Neurone war dagegen nicht verändert. Die Überproduktion der GABAergen Neurone wurde in erster Linie durch den Transkriptionsfaktor FOXG1 angetrieben. Eine weitere Auffälligkeit war eine vermehrte Bildung von Zellfortsätzen (Neuriten) und Synapsen. Ähnliche Veränderungen wurden laut Vaccarino auch im Gehirn von Patienten mit autistischen Störungen gefunden sowie bei einem Mäusemodell zum Fragilen-X-Syndrom, einer der häufigsten Ursachen erblicher kognitiver Behinderungen beim Menschen, die häufig mit autistischen Symptomen einhergeht.
Ob sich aus den Erkenntnissen neue Behandlungsansätze ergeben, lässt sich schwer vorhersagen. In den Zellexperimenten konnte die Entwicklung des Hirngewebes durch eine genetische Blockade der GABAergen Neurone normalisiert werden. Ob allerdings mit Medikamenten, die GABAerge Neurone blockieren, nach Abschluss der Hirnentwicklung noch eine Wirkung erzielt werden kann, ist fraglich. Dies dürfte zunächst Gegenstand präklinischer Studien bleiben.
© rme/aerzteblatt.de

Autismus ist ein sehr komplexes Syndrom

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