Ärzteschaft
„Nicht alle Kinderärzte achten auf die Zeichen von FASD“
Mittwoch, 19. August 2015
Köln – Schätzungen zufolge werden in Deutschland 8.000 bis 10.000 Kinder mit einer Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) geboren. Damit ist FASD die häufigste angeborene Behinderung in diesem Land. In dem im Mai veröffentlichen Nationalen Gesundheitsziel „Alkoholkonsum reduzieren“ geht es auch darum, die Inzidenz von FASD zu reduzieren. Michael Klein, Professor für Suchtforschung an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln, ist Experte für kindliche Schädigungen durch Alkohol und Drogen. Dem Deutschen Ärzteblatt erklärt er, in welchen sozialen Schichten Alkoholkonsum während der Schwangerschaft am häufigsten vorkommt und wie Ärzte dazu beitragen können, Behinderungen zu verhindern.
Fünf Fragen an Michael Klein, Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen
DÄ: Wie viele Menschen sind in Deutschland von einer Fetalen Alkoholspektrumstörung betroffen?
Klein: Genaue Erhebungen gibt es nicht. Wir schätzen aber, dass pro Jahr etwa 8.000 bis 10.000 Kinder in Deutschland mit einer Fetalen Alkoholspektrumstörung geboren werden. Die Beeinträchtigungen dieser Kinder sind dabei sehr unterschiedlich. Sie reichen von einer leichten Lernschwäche bis hin zum Vollbild der Behinderung, dem Fetalen Alkoholsyndrom, FAS, das auch Gesichtsdysmorphien beinhaltet. Mit FAS werden etwa 2.000 Kinder pro Jahr geboren. Wir schätzen, dass in Deutschland heute etwa 500.000 bis 600.000 erwachsene Menschen mit FASD leben. Das ist eine konservative Schätzung.
DÄ: Manche Schwangeren glauben ja, dass ein Glas Alkohol hin und wieder während der Schwangerschaft nicht schlimm ist. Stimmt das?
Klein: Nein, das stimmt ganz und gar nicht. Alkohol wird über das Blut in die Plazenta der Mutter und damit zum Fötus transportiert. Besonders groß sind die Auswirkungen während der ersten drei Monate, weil in dieser Zeit die Organe und das Gehirn des Kindes besonders intensiv entwickelt werden. Aber auch später kann Alkohol schon in geringen Mengen zu einer Beeinträchtigung des Kindes führen. Ein einmaliger Alkoholkonsum wird dabei nicht zu schwersten Gehirnschädigungen führen, kann aber auch eine Retardierung zur Folge haben.
DÄ: Trinken insbesondere Frauen bestimmter sozialer Schichten Alkohol während der Schwangerschaft oder ist dies ein gesamtgesellschaftliches Problem?
Klein: Wir wissen, dass Frauen aus höheren sozialen Schichten mehr Alkohol trinken als andere Frauen. Da sie aber über eine höhere Bildung verfügen, wissen sie um die Gefahren des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft und verhalten sich entsprechend vorsichtiger. Man kann also davon ausgehen, dass vor allem Frauen aus niedrigeren sozialen Schichten während der Schwangerschaft Alkohol trinken.
DÄ: Vor kurzem wurde das Nationale Gesundheitsziel „Alkoholkonsum reduzieren“ veröffentlicht. In welchem Umfang ist dort das Thema FASD berücksichtigt?
Klein: Es wurde in einem angemessenen Umfang berücksichtigt, und das ist sehr erfreulich. In dem Gesundheitsziel wird ein kompletter Alkoholverzicht während der Schwangerschaft gefordert sowie eine bessere Diagnostik der Kinder mit FASD im neugeborenen und frühkindlichen Bereich. Angesprochen werden dabei vor allem Kinderärzte, da sie die Kinder während der Früherkennungsuntersuchungen sehen. Nicht alle Kinderärzte achten dabei jedoch auf die Zeichen von FASD. Wir empfehlen eine Diagnose nach dem sogenannten 4-Digit-Code, bei dem der Arzt auf Wachstumsstörungen, faziale Dysmorphien, eine Schädigung des zentralen Nervensystems und einen pränatalen Alkoholkonsum der Mutter achtet. Wichtig wäre es zudem, wenn Gynäkologen Schwangere noch stärker zu identifizieren versuchen, die während der Schwangerschaft überhaupt oder viel Alkohol trinken. Das ist natürlich nicht leicht, weil keine Schwangere das gerne zugibt. Aber es ist sehr wichtig.
DÄ: Zusammen mit Kollegen haben Sie eine Stellungnahme verfasst, wie die Forderungen aus dem Nationalen Gesundheitsziel umgesetzt werden können. Wie?
Klein: Am wichtigsten ist es aus meiner Sicht, dieses Thema in der ärztlichen Weiterbildung zu verankern, damit Ärzte dafür sensibilisiert werden. Und dabei geht es nicht nur um Pädiater, sondern auch um Gynäkologen und Hausärzte. Außerdem muss die Bevölkerung insgesamt besser informiert werden. Wir brauchen flächendeckend Warnhinweise auf Alkoholflaschen, wir brauchen auch eine bessere Suchtberatung für Frauen. Gynäkologen müssten zudem standardmäßig eine Alkoholanamnese durchführen. Und wir brauchen eine höhere Besteuerung von Alkoholika. Denn in Ländern mit einer höheren Besteuerung wird auch weniger Alkohol getrunken.
© fos/aerzteblatt.de

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