Politik
„Wir sind gut vorbereitet auf alles, was jetzt noch kommen mag“
Mittwoch, 6. April 2016
Kiel – Hunderttausende Flüchtlinge haben im vergangenen Jahr in Deutschland um Asyl gebeten. Sie wurden nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt und dort medizinisch untersucht. In Schleswig-Holstein war unter anderem Jan-Thorsten Gräsner, Direktor am Institut für Rettungs- und Notfallmedizin am Universitätsklinikum des Landes mit der Organisation der Erstaufnahme betraut. Gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt berichtet er, welches die größten Herausforderungen waren, wie die Zusammenarbeit mit den Kassenärztlichen Vereinigungen funktioniert hat und wie das Land heute auf die Ankunft weiterer Flüchtlinge vorbereitet ist.
Fünf Fragen an Jan-Thorsten Gräsner, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
DÄ: Was war Ihr Auftrag?
Gräsner: Unsere Aufgabe war es, die Erstaufnahmeuntersuchungen in einigen Flüchtlingseinrichtungen in Schleswig-Holstein zu organisieren. Bei uns im Land gibt es 13 Erstaufnahmeeinrichtungen, die größte davon liegt in Neumünster, auf dem Gelände des Landesamtes für Ausländerangelegenheiten. Wir halten dort in unserer Untersuchungseinrichtung des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein unter anderem eine Labordiagnostik vor Ort vor, in der wie im Krankenhaus gearbeitet werden kann. Wir hatten also die Laborergebnisse noch am selben Tag. Kollegen an der Uniklinik standen über Teleradiologie zur Verfügung, um Röntgenbefunde abzuklären. Und auf dem Gelände gibt es auch eine Hausarztpraxis zur Weiterbehandlung der Flüchtlinge.
Unsere Aufgabe war es, eine allgemeine orientierende körperliche Untersuchung durchzuführen, wie es im Landesasylverfahrensgesetz heißt. Dazu gehören eine Untersuchung auf Kratzmilben und Läuse, zudem eine Röntgenuntersuchung auf Tuberkulose bei Jugendlichen ab dem 16. Lebensjahr, außer bei Schwangeren. Wir betreiben vor Ort hierfür zwei Röntgencontainer. Darüber hinaus erfolgte eine serologische Untersuchung auf Masern und bei Frauen im gebärfähigen Altern sowie bei Kindern auf Varizellen.
Medizinische Flüchtlingshilfe: Ein enormer Kraftakt
Im vergangenen Sommer mussten binnen Stunden Hunderttausende Flüchtlinge medizinisch versorgt werden. In der Rückschau zeigt sich: Weil sich zahlreiche Ärzte in ihrer Freizeit engagierten, konnte schnell geholfen werden. Inzwischen läuft die Versorgung deutlich strukturierter. München, Spätsommer 2015. Ungarn öffnet seine Grenzen und stellt Züge zur Verfügung, mit denen Flüchtlinge weiter Richtung
DÄ: Mit wie vielen Mitarbeitern haben Sie die Flüchtlinge untersucht?
Gräsner: In Neumünster arbeiten bis zu acht Ärzte und 20 Assistenzkräfte wie Pflegekräfte, medizinisch-technische Assistenten und Übersetzer. Auch viele Studenten waren in ihren Semesterferien vor Ort. Wir hatten eine gute Mischung. Mit diesem Team haben wir seit Ende August über 10.000 Flüchtlinge untersucht, 50 bis 400 am Tag. Wir haben übrigens bewusst keine Mitarbeiter des Uniklinikums für die Untersuchungen abgestellt, um den Klinikablauf nicht einzuschränken. Die Kollegen haben das alles in ihrer Freizeit gemacht. Und bis heute haben wir keine Probleme damit, Kollegen zu finden.
DÄ: Was waren die größten Herausforderungen?
Gräsner: Die größte Herausforderung war die eindeutige Zuordnung der Patienten. Denn die unterschiedlichen Akteure hatten alle Dokumentationssysteme, die nicht miteinander kompatibel sind. So mussten in jedes System die Daten der Menschen neu per Hand eingegeben werden. Das war ein großer Aufwand, aber es hat funktioniert.
Als das Lager in Neumünster im vergangenen Sommer übergelaufen ist, haben wir in Rendsburg ein weiteres Lager aus dem Boden gestampft. Hier fanden die Untersuchungen in Containern statt. Problematisch war in Rendsburg am Anfang, dass wir die Flüchtlinge, bei denen wir einen weiteren Behandlungsbedarf festgestellt haben, selbst weiterbehandeln mussten. Das hat natürlich Zeit gekostet und die Schlagzahl verringert. Es hat einige Wochen gedauert, bis wir uns mit den KVen abgestimmt haben. Danach kamen Niedergelassene ins Lager. Sie haben in einem weiteren Container Flüchtlinge weiterbehandelt und die Versorgung bei chronischen oder akuten Erkrankungen übernommen.
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DÄ: Wie viele Patienten mussten denn weiterbehandelt werden?
Gräsner: 95 Prozent der Flüchtlinge waren ohne pathologischen Befund. Bei drei bis fünf Flüchtlingen von 1.000 gab es einen Verdacht auf TBC, bei 2 von 5.000 hat sich der Verdacht schließlich bestätigt. Psychische Erkrankungen wurden dabei übrigens nicht berücksichtigt. Zum einen sieht dies die gesetzlich vorgeschriebene Untersuchung nicht vor. Entscheidender ist es jedoch, das nach Expertenmeinung diese psychischen Probleme erst später, also nach dem Aufenthalt in den Erstaufnahmeeinrichtungen, erkennbar sind.
DÄ: Wie beurteilen Sie die Situation aus der Retrospektive?
Gräsner: Es hat erfreulich gut geklappt, auch, weil es eine enge Abstimmung zwischen allen beteiligten Organisationen gab. In der Rückschau hätte ich es mir komplexer vorgestellt. Entscheidend für den Erfolg war, dass sich so viele Ärzte, Pflegekräfte und andere Mitarbeiter der Uniklinik freiwillig für die Untersuchungen gemeldet haben.
Insgesamt war die Organisation der Erstaufnahmeuntersuchungen für uns keine medizinische Herausforderung, sondern eine logistisch. Es war Arbeit, die uns gefordert hat. Wir haben unsere Prozesse organisiert und die Abläufe standardisiert, wir haben unsere Logistik angepasst und sind dabei im Laufe der Zeit auch deutlich professioneller geworden. Wir sind jetzt auch gut vorbereitet auf alles, was jetzt noch kommen mag, und wir hoffen, das uns nichts mehr überraschen wird. © fos/aerzteblatt.de

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