Politik
Weißbuch zeigt Defizite in der Versorgung von Patienten mit Multipler Sklerose
Mittwoch, 6. April 2016
Berlin – Die Versorgungssituation bei der Erstdiagnose einer Multiplen Sklerose (MS) ist in Deutschland unzureichend, weil die Neurologen an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt sind. Die Adhärenz der verlaufsmodifizierenden Immuntherapie ist bei vielen Patienten niedrig. Deutliche Unterversorgung besteht ebenso bei der Therapie der Symptome, unter anderem weil es zu wenig Neuropsychologen gibt. Vernetzte Versorgungsmodelle mit interdisziplinären Behandlungsteams könnten die Situation der Patienten verbessern. Dies sind zusammengefasst die Erkenntnisse des „Weißbuch - Multiple Sklerose“ vom IGES-Institut, das heute in Berlin vorgestellt wurde.
„MS ist dank der wissenschaftlichen Erfolge eine beherrschbare Krankheit, auch wenn sie weiterhin unheilbar ist. Strukturelle Defizite in der Versorgung dürfen diese Erfolge nicht ausbremsen“, sagte Judith Haas, Ärztliche Leiterin des Zentrums für Multiple Sklerose am Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Die Immuntherapie könne die Häufigkeit der Schübe und die fortschreitende Behinderung beeinflussen. Wichtig sei deshalb ein schneller Beginn dieser verlaufsmodifizierenden Therapie nach der Erstdiagnose.
Doch nur jeder zweite GKV-Patient mit dokumentierter Erstdiagnose MS nimmt noch im selben Jahr eine verlaufsmodifizierende Therapie in Anspruch, belegt das Weißbuch. Die Versorgung ist demnach abhängig von der der regionalen Facharztdichte: In Brandenburg, wo 4,4 Neurologen auf 100.000 Einwohner kommen, suchten 37 Prozent der Betroffenen innerhalb von sechs Wochen nach Erstdiagnose einen Neurologen zur Weiterbehandlung auf; in Hamburg hingegen 64 Prozent (11 Fachärzte auf 100.000 Einwohner). Daraus folgt auch, dass Patienten mit akutem Schub zu häufig stationär behandelt werden.
Wartezeiten von drei bis fünf Monaten bei Neurologen
„Wir sind an der Kante unserer Verfügbarkeit“, sagte Uwe Maier, Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Neurologen (BDN). Der Neurologe sei der primäre Ansprechpartner für Patienten mit MS. 3.500 Fachärzte gebe es bundesweit. „Doch nicht alle sind auf MS-Patienten spezialisiert.“ Wartezeiten von drei bis fünf Monaten in ländlichen Gebieten seien deshalb die Regel. „Wir brauchen eine neue Bedarfsplanung und intelligente Versorgungskonzepte“, forderte Maier.
Das Weißbuch stellt weiter heraus, dass nur rund 30 bis 40 Prozent der Patienten die empfohlenen Medikamente der Immuntherapie kontinuierlich einnehmen. Als Gründe für die fehlende Adhärenz werden Nebenwirkungen wie Fieber oder Schmerzen genannt, aber auch die MS-typischen neuropsychologischen Symptome wie Fatigue oder Depressionen. Zudem spielen Einschränkungen in der Sexualität eine Rolle. Späte Therapieabbrüche sind auch mit angenommener fehlender Wirksamkeit der Medikamente assoziiert.
Mehr Behandlungsangebote für die neuropsychologischen Symptome
„Für die neuropsychologischen Symptome brauchen wir dringend Standards in Diagnostik und Therapie im Versorgungsalltag und mehr Behandlungsangebote“, forderte BDN-Vorsitzender Maier. Denn die Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, die extreme Müdigkeit und die Depressionen schränkten die psychosoziale Teilhabe von MS-Patienten enorm ein. Das Weißbuch zeigt bei der Versorgung dieser Symptome große Defizite: Rund 80 Prozent der Betroffenen erhalten keine Therapie. Maier führt das auf deutlich zu wenig entsprechend spezialisierte Psychotherapeuten zurück: Bundesweit sind nach Angaben des Weißbuchs 300 Neuropsychologen im ambulanten Bereich tätig.
Vernetzte Versorgungsmodelle mit interdisziplinären Behandlungsteams, die sich aus Neurologen, Neuropsychologen, Urologen, Radiologen, Physiotherapeuten und Logopäden zusammensetzen, könnten die Versorgung von Patienten mit Multipler Sklerose verbessern, zeigen sich die Experten des Weißbuchs überzeugt. Das Beispiel des Modells zur Integrierten Versorgung von MS-Patienten in Nordrhein zeige in der Evaluation deutliche Erfolge: weniger akutstationäre Aufenthalte, keine Verschlechterung des Behinderungsgrads und eine gleichbleibende gesundheitliche Lebensqualität. © PB/aerzteblatt.de

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