Politik
Contergan-Skandal ist ein Beispiel für staatliche Hilfslosigkeit
Dienstag, 17. Mai 2016
Düsseldorf – Der Skandal um das Arzneimittel Thalidomid (Contergan) ist ein Beispiel für unternehmerische Verantwortungslosigkeit und staatliche Passivität und Hilflosigkeit. Das geht aus einem 690 Seiten starken Forschungsbericht hervor, den der Lehrstuhl für neuere und neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster jetzt vorgestellt hat.
Die Studie „Die Haltung des Landes Nordrhein-Westfalen zum Contergan-Skandal und den Folgen“ hatte das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium Ende Mai 2013 in Auftrag gegeben. „Mit der historischen Aufarbeitung legen wir gegenüber den Opfern von Contergan, ihren Angehörigen und der gesamten Öffentlichkeit das damalige Handeln des Landes durch unabhängige Forscher offen“, erklärte Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Bündnis90/Grüne). „Auf diese Informationen haben die Opfer und ihre Eltern, die bis heute unter den Folgen von Contergan leiden, ein Recht“, sagte die Ministerin.
Der Fall Contergan gilt als der größte Arzneimittel-Skandal der deutschen Geschichte. Bei dem 1957 in den Handel eingeführten Contergan handelte es sich um ein Schlaf- und Beruhigungsmittel, das sich bis zum Frühjahr 1960 zu einem der meistkonsumierten Arzneimittel der Bundesrepublik Deutschland entwickelte. Bis zur Marktrücknahme im November 1961 verkaufte der Hersteller, das Stolberger Pharmaunternehmen Chemie Grünenthal, über 300 Millionen Tagesdosen. „Der wirtschaftliche Erfolg des Präparates war wesentlich bedingt durch eine aggressive Vermarktungsstrategie, die das Mittel als ‚gefahrlos“ und ‚völlig ungiftig‘ bewarb“, berichtet der Autor Niklas Lenhard-Schramm.
Die Contergan-Katastrophe: Die trügerische Sicherheit der „harten“ Daten
Mit der Einführung des rezeptfreien Beruhigungsmittels Thalidomid (Contergan) am 1. Oktober 1957 nahm die folgenschwerste Arzneimittelkatastrophe des 20. Jahrhunderts ihren Lauf. [...]
Allein in Deutschland wurden durch das Medikament etwa 5.000 Menschen geschädigt. Von ihnen leben heute noch etwa 2.400, davon rund 800 in Nordrhein-Westfalen.
„Ein arzneimittelrechtliches staatliches Zulassungsverfahren im heutigen Sinne existierte seinerzeit noch nicht. Die Unbedenklichkeit von Medikamenten wurde damals durch die Herstellerfirmen in eigener Verantwortung geprüft“, berichtet Lenhard-Schramm. Die staatliche Arzneimittelaufsicht sei von einem passiven Amtsverständnis geleitet worden, nach dem sie beispielsweise nur zu reagieren hatte, wenn entsprechende Anträge gestellt wurden. „Von dem Verdacht auf embryonale Schäden durch Thalidomid-Einnahme erfuhren die obersten Gesundheitsbehörden der Länder erst sechs Tage vor der Marktrücknahme von Contergan durch die Firma Grünenthal“, so der Studienautor.
Als in Fachkreisen erste mögliche schwere Nebenwirkungen von Contergan beobachtet wurden, habe der Contergan-Hersteller mit gezielter Desinformation und der Drohung von Schadensersatzansprüchen so lange wie möglich versucht, das Medikament mit hohen Verkaufszahlen am Markt zu halten. „Der Hersteller hätte vielen Menschen großes Leid ersparen können, wenn er nach den zahlreichen Hinweisen auf schädliche Nebenwirkungen Contergan früher vom Markt genommen hätte“, sagte Steffens. „Ich hätte mir aber auch mehr Mut von Seiten der Verwaltung gegenüber Grünenthal gewünscht, weiß aber, dass heutiges Wissen und heutige Eingriffsmöglichkeiten nicht auf die damalige Zeit übertragen werden können“, betonte die Ministerin.
Auch nach der Marktrücknahme war der Staat offenbar überfordert. Es bereitete den Landesbehörden massive Schwierigkeiten, die Wirkung Contergans klären zu lassen, die Zahl der Betroffenen festzustellen und Contergan zu verbieten. Die Bevölkerung wurde nicht aufgeklärt, staatlichen Hilfsmaßnahmen erwiesen sich vielfach als unzureichend.
Ab 1962 folgte die strafrechtliche Aufarbeitung – es entwickelte sich der umfangreichste Strafprozess der neueren deutschen Rechtsgeschichte.
Neun Jahre nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens wurde der Prozess eingestellt, verbunden mit einer Entschädigungszahlung von 100 Millionen Mark der Firma Grünenthal, ergänzt durch weitere 100 Millionen Mark durch den Bund. An der viel kritisierten Einstellung des Verfahrens, die Grünenthal zur Voraussetzung für ihre Entschädigungszahlung machte, waren die Verteidigung, Nebenkläger, Staatsanwaltschaft und Gericht beteiligt.
„Erdrückend deutlich“ wird laut der Studie die strukturelle Unterlegenheit aller Behörden gegenüber dem Hersteller. Dieser konnte erheblich schneller größere Ressourcen mobilisieren, etwa kostspielige Gutachter und Fachkräfte. Die Stolberger Firma engagierte im Strafverfahren die Elite der deutschen Strafverteidiger und nutzte die Presselandschaft mithilfe einer eigenen Presseabteilung, während den Beamten allzu weitgehende Erklärungen gegenüber der Presse verwehrt blieben. „Aus heutiger Sicht waren sowohl die Rahmenbedingungen, nach denen Medikamente auf den Markt kommen konnten, als auch der Umgang der Verwaltung mit dem Contergan-Skandal verheerend“, so Steffens Fazit. © hil/aerzteblatt.de

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