Ärzteschaft
Experten zeigen Wege zu einer besseren Patientenversorgung
Donnerstag, 19. Mai 2016
Berlin – Der Weg aus der weltweiten Krise der Gesundheitssysteme verläuft über Teamarbeit und Kommunikation. Das betonte heute der Präsident der Ärztekammer Berlin, Günther Jonitz, auf dem 1. Deutschen Kongress Value Based Healthcare der Ärztekammer in Berlin. Das Problem sei die fehlende Zusammenarbeit und Kommunikation der Akteure im System. „Je regionaler es wird, desto eher finden sich Möglichkeiten, im Konsens kluge Entscheidungen zu treffen“, sagte Jonitz. „Je höher man kommt, desto mehr machtpolitische Interessen spielen mit.“ Hier seien die fehlende gemeinsame Verantwortung und das Schwarze-Peter-Spiel das Kernproblem.
Die Krise des Gesundheitssystems sei zudem eine Krise des Organisationsprinzips. „Der Grund dafür ist nicht, dass das System so schlecht ist“, meinte Jonitz. Der Grund sei „der medizinische Erfolg und die daraus resultierende Komplexität des Systems“.
Möglichkeiten für einen virtuellen Leibarzt
Um die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern, will das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die sprechende Medizin stärken. „Heute dauert ein Arztbesuch Studien zufolge im Durchschnitt acht Minuten“, sagte Oliver Schenk, Abteilungsleiter im BMG. „Nach 20 Sekunden wird der Patient zum ersten Mal vom Arzt unterbrochen, und am Ende haben die Patienten nur die Hälfte von dem verstanden, was der Arzt ihnen gesagt hat.“ Eine verständliche Sprache des Arztes müsse daher stärker geschult und die Patienten müssten mehr in die Therapiefindung einbezogen werden. „Wir wollen in der Patient-Arzt-Beziehung echte Fortschritte erzielen“, meinte Schenk. „Das ist unserem Haus sehr wichtig.“
Die Versorgung will das BMG zudem mit einer verstärkten Digitalisierung des Gesundheitssystems verbessern. „Wir sollten die Digitalisierung grundsätzlich positiv sehen, auch im Gesundheitswesen“, meinte Schenk. „Sie schafft neue Möglichkeiten für einen aufgeklärten, selbstbestimmten, souveränen Patienten.“ Immer mehr Menschen nutzten medizinische Apps, um ihre Gesundheit zu kontrollieren. Die neue Internetmedizin biete eindrucksvolle Möglichkeiten für einen „virtuellen Leibarzt“, zum Beispiel im Bereich der Diabetestherapie, bei Sehstörungen oder bei der Begleitung von Schwangerschaften.
Direkte die Ursache angehen
„Künftig werden wir im Gesundheitssystem weniger Symptome behandeln und stattdessen zunehmend die direkte Ursache einer Krankheit angehen“, meinte Schenk. „Das kostet alles Geld, möglicherweise mehr als bisher, aber es schafft auch neue Möglichkeiten einer Therapie, die am Ende weniger personalintensiv sein kann.“
Die Aufgabe der Politik sei es dabei, alle Bürger am medizinischen Fortschritt teilhaben zu lassen. „Was jemand dringend braucht, muss er auch bekommen, egal, wie viel er verdient und wo er wohnt“, sagte Schenk. „Es kann nicht sein, dass jemand, der auf dem Land lebt, weniger gut versorgt wird, als jemand, der in der Stadt wohnt.“ Für den ländlichen Raum müssten dabei die Chancen der Telemedizin genutzt werden.
Operation gelungen, Patient Pflegefall
Der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Josef Hecken, betonte die Bedeutung der Lebensqualität für die Gesamtbewertung einer ärztlichen Behandlung. Er nannte das Beispiel seines 90-jährigen Vaters, der mit Gallensteinen ins Krankenhaus eingeliefert worden sei, die der Chirurg habe leitliniengerecht operativ entfernen wollen. „Dann hätte mein Vater aber noch zehn Tage im Krankenhaus verbringen müssen und wäre danach vielleicht nicht wieder auf die Beine gekommen“, sagte Hecken.
„Was nützt ihm aber eine Operation, die bestenfalls gut verläuft und hinterher die Ergebnisqualität des Krankenhauses erhöht, wenn er hinterher zum Pflegefall wird?“ Bei jeder medizinischen Behandlung müsse man also auch die Indikationsqualität in den Blick nehmen. Hecken: „Man muss den Stand der Wissenschaft auf den Mehrwert herunterbrechen, den der Einzelne von der Behandlung hat.“
Gleiches gelte auch für die Behandlung mit neuen Medikamenten. „Der G-BA bekommt von den Pharmafirmen Dossiers, in denen das progressionsfreie Überleben der Patienten beschrieben ist. Aber ist die Verlängerung des progressionsfreien Überlebens denn per se ein Mehrwert?“, fragte Hecken. „Wir sagen: Das progressionsfreie Überleben ist nur dann ein relevanter Parameter, wenn es sich auch tatsächlich für den Patienten bemerkbar macht.“
Mangelnde Datenlage zur Lebensqualität
„Wir schauen heute zu wenig auf den individuellen Wert einer Therapie für den einzelnen Patienten“, kritisierte Hecken. „In vielen Dossiers haben wir keine belastbaren Daten dazu, wie sich der Patient in den wenigen Monaten fühlt, die wir ihm vielleicht mit einem neuen Medikament schenken.“ Deshalb werde der G-BA den Zusatznutzen von Medikamenten, deren Zulassungsstudien nach Inkrafttreten des AMNOG begonnen wurden, nach unten saldieren, wenn keine belastbaren Daten zur Lebensqualität vorliegen. Hecken kündigte an, dass mit dem Innovationsfonds in Kürze Projekte gefördert würden, die sich mit dem Messen von Lebensqualität befassen.
„Jede MFA hat ein Themengebiet und betreut die jeweiligen Patienten“
Der bayerische Hausarzt Wolfgang Blank erklärte zudem, wie er zusammen mit seinen Kollegen versucht, die Behandlungsqualität im ambulanten Bereich zu verbessern. „Wir haben im Bayerischen Wald ein Netzwerk gegründet, das evidenzbasiert ist, pharmafrei und in dem keine IGeL-Leistungen erbracht werden“, sagte er. „Wir haben alle Gesundheitsberufe bei uns in der Region zusammengesucht und wir versorgen die Patienten gemeinsam: MFA, Physiotherapeut, Ergotherapie, Pflegedienst, Angehörige und Ärzte.“
Jede MFA sei auf ein Themengebiet spezialisiert und betreue die jeweiligen Patienten. „Eine MFA ruft zum Beispiel einmal im Monat depressive Patienten an und fragt sie, wie es ihnen geht“, erklärte Blank. „Geht es dem Patienten nicht gut, bestellen wir ihn in die Praxis. Alle halbe Jahre machen wir zudem einen Depressionstest. Dadurch habe ich als Arzt weniger Arbeit und die Qualität der Versorgung stimmt.“
© fos/aerzteblatt.de

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