Medizin
Absetzstrategien bei chronischer myeloischer Leukämie: Paradigmenwechsel in Sicht
Montag, 6. Juni 2016
Chicago – Bislang wird Patienten in der chronischen Phase einer chronischen myeloischen Leukämie (CML) eine lebenslange Therapie empfohlen, wenn es keine wesentlichen Unverträglichkeiten gibt. Da auch bei gutem Ansprechen auf die Pharmakotherapie eine minimale Resterkrankung bestehen bleibt, soll die lebenslange Behandlung ein Rezidiv und einen möglichen Progress der Erkrankung in die akzelerierte Phase oder die Blastenkrise verhindern – und damit den Tod des Patienten.
Für einen Teil der Patienten aber, die optimal angesprochen haben, kann ein Absetzversuch sicher sein, wie jetzt Daten der ENESTFreedom-Studie belegen. Voraussetzung: Die Patienten haben zuvor optimal auf Nilotinib angesprochen und eine engmaschige Verlaufskontrolle mit guter Logistik und hoher Datenqualität ist gewährleistet.
„In einigen Jahren wird es vermutlich für einen Teil der CML-Patienten eine Alternative zur lebenslangen Behandlung geben“, sagte Andreas Hochhaus von der Abteilung Hämatologie/Onkologie der Klinik für Innere Medizin II der Universität Jena bei der 52. Jahrestagung der American Society of Clinical Oncology (ASCO) in Chicago im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt.
Nachdem das Hauptziel der Therapie, nämlich einen Progress der Erkrankung und damit den Tod des Patienten zu vermeiden, für die meisten Patienten inzwischen durch die Behandlung mit Tyrosinkinaseinhibitoren erreicht werden kann, wäre ein kontrolliertes, sicheres Absetzen der Medikation bei definierten Patientengruppen nun ein weiterer Paradigmenwechsel der Behandlung. Hochhaus hat die Ergebnisse der ENESTFreedom-Studie vorgestellt.
Sie ist die erste klinische Untersuchung zur therapiefreien Remission bei Patienten, die Nilotinib als Erstlinientherapie erhalten haben. 215 Patienten in der chronischen Phase einer BCR-ABL-positiven CML (b2a2 und/oder b3a2-Transkripte) wurden aufgenommen. Sie hatten unter mindestens zweijähriger Firstline-Behandlung mit Nilotinib (400-600 mg/Tag) eine tiefe molekulare Response (MR 4,5) erreicht.
Eine MR 4,5 ist definiert als ein Abfall der BCR-ABL-Transkripte um 4,5 Logstufen des Ausgangswertes (entsprechend 0,0032 % nach internationaler Skala). Bei Erreichen dieses Zielwerts wurden die Patienten für weitere 52 Wochen mit Nilotinib therapiert, um die MR 4,5 zu konsolidieren. Nur wenn die MR 4,5 auch in dieser einjährigen Konsolidierungsphase erhalten blieb, konnten die Patienten in die Phase der therapiefreien Remission (TFR) wechseln, in der die Medikation abgesetzt wurde.
Primärer Endpunkt der ENESTFreedom-Studie ist der Anteil der Patienten, die 48 Wochen nach Beginn der TFR-Phase noch eine majore molekulare Response (MMR) hatten, also eine Reduktion der Tumorlast um mindestens 3 Logstufen (BCR-ABL ≤ 0,1 %). Bei Verlust einer MMR wurde die Nilotinibtherapie wieder aufgenommen.
zum Thema
Deutsches Ärzteblatt print
Von den 190 Teilnehmern, die in die TFR-Phase kamen, blieb bei 51,6 % nach 48 Wochen mindestens die MMR erhalten, beim ganz überwiegenden Teil auch die MR 4,5. Bei 86 Patienten wurde die Nilotinibtherapie wiederaufgenommen. 85 von ihnen (98,8 %) erreichten bei Reinitiierung der Behandlung mindestens wieder einer MMR. Die Hälfte von ihnen hatte nach nach 7,9 Wochen eine MMR und nach 15 Wochen eine MR 4,5. Binnen 40 Wochen nach Nilotinib-Wiederaufnahme war bei fast 89 % (76/86) die BCR-ABL-Last wieder auf eine MR 4,5 abgefallen.
Die meisten Nebenwirkungen der Tyrosinkinaseinhibition reduzierten sich in der TFR-Phase im Vergleich zur Behandlungsphase: Der Prozentsatz der Patienten mit Bluthochdruck und erhöhten Blutzucker- und Leberwerten sank. Gelenkschmerzen, bekannte, vorübergehende Symptome beim Absetzen von TKI bei CML-Patienten, waren dagegen in der TFR-Phase etwas häufiger.
„Mehr als die Hälfte der Patienten mit anhaltender tiefer Remission unter Nilotinib-Erstlinientherapie bleibt ohne Medikation für weitere 48 Wochen in tiefer Remission“, fasste Hochhaus die Daten zusammen. „Und wenn die Krankheit zurückkehrt und eine Nilotinib-Behandlung wiederaufgenommen wird, sprechen fast alle Patienten an, in unserer Studie waren es 99 Prozent.“ Das Gefährdungspotenzial des Absetzens sei also unter geeigneten Voraussetzungen gering, selbst bei einer vergleichsweise kurzen Nilotinibtherapie von median 3,6 Jahren wie in der ENESTFreedom-Studie. Der Anteil der Patienten, die Kandidaten für ein Absetzen sein könnten, sei unter Nilotinib deutlich höher als unter einer Therapie mit dem Erstgenerationsinhibitor Imatinib.
Als grundsätzliche Vorteile von Absetzstrategien gelten das Vermeiden unerwünschter Medikamenteneffekte, die Möglichkeiten der Familienplanung, aber auch gesundheitsökonomische Aspekte der Pharmakotherapie. Derzeit sollte ein Absetzen der Medikation bei CML-Patienten aber vor allem im Rahmen von Studien erfolgen, denn noch sei die Bedeutung der verschiedenen Faktoren, die den Erfolg einer solchen Strategie positiv und negativ beeinflussen, nicht geklärt.
Zu diesen Faktoren gehören Art und Dauer der Vorbehandlung und der Remision, aber auch Immunparameter, die in der ENESTFreedom-Studie begleitend untersucht werden. „Die anhaltende tiefe molekulare Remission ist eine Voraussetzung für das Absetzen, sie allein aber bringt noch keine Sicherheit“, sagte Hochhaus. © nsi/aerzteblatt.de

Nachrichten zum Thema

Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.