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Medizin

Stammzelltherapie verspricht riskante Heilung einer aggressiven Multiplen Sklerose

Freitag, 10. Juni 2016

dpa

Ottawa – Eine Immunablation gefolgt von einer autologen Stammzelltransplantation hat in einer Behandlungsserie 23 Patienten im Frühstadium einer sehr aggressiven Multiplen Sklerose langfristig vor weiteren Rezidiven der Autoimmunerkrankung bewahrt, so dass die Mediziner im Lancet (2016; doi: 10.1016/S0140-6736(16)30169-6) von einem Wendepunkt in der Behandlung der Multiplen Sklerose sprechen. Der Tod eines Patienten an einer Sepsis weist jedoch auf die Risiken der Therapie hin, die nur für eine Minderheit der Patienten infrage kommen dürfte. 

Die Multiple Sklerose gehört zu den Autoimmunerkrankungen, bei denen Zellen des Immunsystems körpereigene Zellen angreifen und zerstören. Der Austausch des erkrankten Immunsystems durch ein gesundes könnte die Erkrankung deshalb heilen. Dies ist durch eine Stammzelltherapie möglich, vor der Neurologen jedoch lange zurückschreckten.

Die Verwendung von allogenen Stammzellen eines fremden Spenders scheitert daran, dass die Spenderzellen im Empfänger eine Graft-versus-Host-Reaktion auslösen würden, deren Folgen schlimmer wären als die Autoimmunerkrankung selbst. Bei Verwendung von allogenen Stammzellen muss sicher gestellt werden, dass die Transplantate wirklich frei sind von „autoreaktiven“  Abwehrzellen, die auf eine Autoimmunreaktion geprägt sind und nach der Behandlung die Erkrankung von Neuem starten würden.

Ein wichtiger Aspekt ist die Sicherheit der Patienten: Vor der Stammzelltherapie muss das alte Immunsystem ausradiert werden. Die dabei eingesetzten Medikamente sind hoch toxisch. Noch gefährlicher sind die ersten Tage und Wochen nach der Stammzelltherapie. Bis sich das neue Immunsystem etabliert hat, sind die Patienten Krankheitserregern gegenüber weitgehend wehrlos.

In den USA, Schweden und Kanada wurden in den letzten Jahren Stammzelltherapien bei MS-Patienten durchgeführt. Die besten Ergebnisse hat dabei offenbar das Team um Harold Atkins vom Ottawa Hospital erzielt. Zwischen Oktober 2001 und Dezember 2009 wurden insgesamt 24 Patienten behandelt. Alle litten an einer rasch fortschreitenden Variante der Erkrankung. Die war entweder eine schubförmig remittierende MS oder eine sekundär progrediente MS.

Bei allen Patienten war es innerhalb von 5 Jahren zu einer Behinderung von mindestens 3,0 Punkten auf der EDSS-Skala gekommen, obwohl alle Patienten mit mindestens einem Basistherapeutikum behandelt wurden, das das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen soll. Die Forscher achteten darauf, dass die Organfunktionen der Patienten intakt waren. Die Gefahr, dass die Patienten die Therapie nicht überleben, sollte möglichst gering bleiben.

Die Behandlung begann mit der sogenannten Mobilisierung des Knochenmarks. In dieser Zeit werden die Stammzellen durch Filgrastim vermehrt und durch Cyclophosphamid aus dem Knochenmark ins Blut gelockt. Nach zehn Tagen Behandlung erfolgte eine Leukopherese, mit der die Abwehrzellen aus dem Blut „gefischt“ werden. Für den Notfall, dass die Stammzellen später nicht angehen sollten, wurde auch eine Knochenmarkprobe entkommen.

Der nächste Schritt war die sogenannte Konditionierung. Die Patienten wurden über vier Tage hochdosiert mit Busulfan, Cyclophosphamid und Antithymozytenglobulin behandelt. Dadurch wurde das alte Immunsystem beseitigt. Am letzten Tag dieser Behandlung erhielten die Patienten die Stammzellen zurück infundiert. Danach verbrachten sie mehrere Wochen auf einer Isolationsstation, wo sie vor äußeren Keimen geschützt wurden.

Wie gefährlich diese Zeit ist, zeigt der Tod eines Patienten. Er starb 62 Tage nach der Transplantation an einer massiven Lebernekrose. Ursache war ein Verschluss der Lebervenen im Rahmen einer Sepsis mit Klebsiella. Ein zweiter Patient erholte sich dank intensivmedizinischer Betreuung von dem sinusoidalen Obstruktionssyndrom. Alle anderen Patienten überstanden die Nebenwirkungen der Konditionierung und die vulnerable Phase nach der Transplantation. 

Wie Atkins berichtet, ist es seither (in median 6,7 Jahren oder 179 Patientenjahren) bei keinem Studienteilnehmer zu einem erneuten Krankheitsschub der MS gekommen, während die Patienten vor der Behandlung im Durchschnitt 1,2 Schübe pro Jahr (167 Schübe in 146 Patientenjahren) erlebt hatten.

In keiner von inzwischen 327 kernspintomographischen Aufnahmen wurde auch nur eine einzige neue aktive entzündliche Läsion entdeckt, während vor der Behandlung auf 48 Scans insgesamt 188 Läsionen vorhanden waren. Kein einziger Teilnehmer nimmt laut Atkins derzeit MS-Medikamente ein.

Bei 70 Prozent der Teilnehmer konnte das Fortschreiten der Erkrankung komplett gestoppt werden. Die Hirnatrophie, die ein Maß für eine Krankheitsprogression ist, kehrte auf das Niveau einer normalen Alterung zurück. Bei 40 Prozent der Teilnehmer kam es zu einer dauerhaften Verbesserung von Sehkraft, Muskelschwäche oder Gleichgewichtsstörungen. Atkins führt dies auf Reparaturvorgänge im Gehirn zurück. Einige Teilnehmer besuchen inzwischen wieder die Schule oder sind berufstätig. Einige haben geheiratet oder sich verlobt. Zwei haben Kinder gezeugt (mit vor der Behandlung archivierten Eizellen oder Spermien).

Dies sind auch für Jan Dörr vom Exzellenzcluster NeuroCure an der Charité beein­druckende Ergebnisse. Die Stammzelltherapie übertreffe damit die Wirkung von Alemtuzumab, dem derzeit stärksten MS-Medikament. Wegen ihrer Risiken werde die Therapie jedoch auf absehbare Zeit eine Behandlung für ausgewählte Patienten bleiben nach einer sorgfältigen Abwägung von Nutzen und Risiken. Die Klinik in Ottawa weist in ihrer Pressemitteilung darauf hin, dass sie die Therapie nur für Patienten mit gültiger kanadischer Krankenversicherung anbietet.

In den letzten Jahren hatten auch andere Gruppen über erste Ergebnisse der Stammzellbehandlung berichtet. Sowohl an der Universität Uppsala als auch an der Feinberg School of Medicine in Chicago war es jedoch in einzelnen Fällen zum Fortschreiten der MS gekommen. Atkins führt den Unterschied auf die Aufbereitung der Stammzellen nach der Leukopherese zurück. Die Forscher benutzen ein Verfahren, das mittels einer immunmagnetischen Selektion potenzielle autoreaktive Zellen aus dem Transplantat entfernt. Eine Einschränkung der Studie ist das Fehlen einer Vergleichsgruppe. Es bleibt abzuwarten, ob andere Zentren die Ergebnisse an einer größeren Gruppe von Patienten reproduzieren können. © rme/aerzteblatt.de

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