Ärzteschaft
Deutsche erziehen ihre Kinder heute gewaltfreier
Dienstag, 21. Juni 2016
Berlin – Die Deutschen erziehen ihre Kinder heute gewaltfreier als noch vor elf Jahren. Im Jahr 2005 waren drei Viertel der Deutschen der Ansicht, ein Klaps auf den Po des Kindes sei in Ordnung. Heute ist nur noch die Hälfte der Deutschen dieser Meinung. Das geht aus einer Umfrage hervor, deren Ergebnisse Jörg M. Fegert, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, am Freitag auf der Jahrespressekonferenz des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (bvkj) in Berlin vorstellte.
Zudem meinten im Jahr 2005 etwa 50 Prozent der Befragten, eine leichte Ohrfeige sei in der Kindeserziehung unproblematisch. Heute sagten dies Fegert zufolge nur noch 17 Prozent. Eine Tracht Prügel mit Bluterguss müsse manchmal sein, meinten damals 2 Prozent. Heute sind es nur noch 0,1 Prozent. Die Daten aus dem Jahr 2005 hatte der Jurist Kai-D. Bussmann im Auftrag des Bundesjustizministeriums erhoben.
Mehrheit der Bevölkerung lehnt heute harte Körperstrafen ab
„Damals gaben 16 Prozent der Befragten an, sie hätten als Kind selbst noch manchmal eine schallende Ohrfeige bekommen. Heute machen nur noch 10 Prozent diese Angabe“, fuhr Fegert fort. „Bei einer Tracht Prügel mit Bluterguss sank die Zahl der Betroffenen von 5 auf 2 Prozent.“ In der Allgemeinbevölkerung habe sich also die Haltung in der Erziehung verändert: Die Mehrheit lehne heute harte Körperstrafen ab. „Das ist sehr wichtig für die Prävention. Denn so gibt es eine höhere Sensibilität innerhalb der Bevölkerung“, betonte Fegert.
Der Bussmann-Report war 2005 entstanden, um die Auswirkungen des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung zu untersuchen. Mit diesem Gesetz wurde im Jahr 2000 das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung verankert. „Viele haben damals gesagt, das sei nur Symbolpolitik“, meinte Fegert. Heute sehe man aber, dass sich in dieser Frage eine deutliche Veränderung in der Bevölkerung ergeben habe.
„Das sind Zahlen, die man sich nicht vorstellen kann“
Diese Entwicklung steht den nach wie vor hohen Zahlen des Kindesmissbrauchs in Deutschland gegenüber, die das Bundeskriminalamt (BKA) Anfang Juni vorgestellt hatte. „Über 90 Prozent der Misshandlungsfälle werden nicht als solche erkannt, zum Beispiel im Krankenhaus“, erklärte Klaus-Michael Keller, Sprecher des Fortbildungsausschusses des bvkj. „Das ist eine riesengroße Zahl.“ 130 Kinder würden dem BKA zufolge pro Jahr getötet, jeden dritten Tag eines. Und pro Jahr würden an 14.000 Kindern körperliche Misshandlungen, sexuelle Gewalt und Vernachlässigung verübt. Dazu gebe es eine riesengroße Dunkelziffer. „Das sind Zahlen, die man sich nicht vorstellen kann“, sagte Keller.
„Es gibt noch einen Hochrisikobereich“, betonte Fegert. „Aber wenn sich in der gesamten Bevölkerung die Haltung ändert, schauen viele nicht mehr so leicht zu, wenn sie sehen, dass ein Kind von seinen Eltern geschlagen wird.“ In dem Kernbereich etwas zu verändern, sei allerdings sehr schwer. „Wir müssen auch in der Medizin noch stärker den Blick auf diese Fälle lenken, weil sie die Gesundheit der Betroffenen in ihrem ganzen Leben beeinträchtigt“, forderte Fegert.
Bilanz des Kinderschutzgesetzes fällt gemischt aus
Die Bundesregierung hat vor fünf Jahren das Bundeskinderschutzgesetz verabschiedet, unter anderem um die Zusammenarbeit zwischen der Jugendhilfe und den Kinder- und Jugendärzten zu verbessern. Die Bilanz der Ärzte fällt gemischt aus. „Das Gesetz hat uns bei der Schweigepflicht massiv entlastet. Wenn es uns nicht gelingt, die Eltern von einer Mitarbeit zu überzeugen, können wir uns ans Jugendamt wenden“, sagte Fegert, schränkte jedoch ein: „Vor allem bei Notfällen klappt das aber noch nicht so richtig, weil wir uns ja oft abends oder am Wochenende um diese Fälle kümmern und beim Jugendamt dann niemand telefonisch zu erreichen ist.“
„Wir Ärzte brauchen einen festen Ansprechpartner in der Jugendhilfe, der das Unterstützungsangebot koordiniert“, forderte auch der Präsident des bvkj, Thomas Fischbach. „Und wir brauchen Rückmeldungen darüber, was aus unseren Patienten geworden ist, um die sich die Jugendhilfe kümmert. Das erfahren wir heute nicht. Das wollen wir aber wissen. Denn wir können unsere Arbeit nicht vernünftig machen, wenn man uns dumm hält.“
Fischbach erklärte, dass „wir Ärzte auch eine verbesserte Kompetenz brauchen“, wenn es um das Erkennen von Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen gehe. Das müsse im Studium beginnen und sich in der Weiterbildung vervollständigen. Eine entsprechende Regelung werde in der neuen Weiterbildungsordnung verankert sein, die aber vielleicht nicht vor 2019 in Kraft trete. „Wir haben noch Nachqualifizierungsbedarf, aber wir brauchen auch Zeit, um uns mit den betroffenen Familien zu befassen“, forderte Fischbach. „Hier geht es um komplexe Probleme, die ich nicht zwischen Tür und Angel besprechen kann. Und wir brauchen Geld für diese Leistung – wir können das nicht für umsonst machen.“
„Wir wollen die Familien nicht verlieren“
Keller betonte, wie schwer es für Kinderärzte sei, im Praxisalltag diese Fälle zu erkennen: „Stellen Sie sich vor: Volle Praxis, Grippewelle. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie bei einem Kind ein komisches Gefühl haben? Sprechen Sie es an? Dann bricht Ihnen der ganze Tag zusammen. Und wie sprechen Sie es an?“ Denn die Ärzte wollten die Familien nicht verlieren. „Wenn wir sie aber mit unserem Verdacht konfrontieren, gehen sie vielleicht zu einem anderen Kinderarzt, vielleicht wechselt auch die Zuständigkeit der Jugendämter. Die Informationen zersplittern und am Ende liegt das Kind tot im Graben.“ © fos/aerzteblatt.de

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