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Risikostruktur­ausgleich: Gibt es eine AOK-Bevorzugung?

Mittwoch, 29. Juni 2016

/dpa

Berlin - Der Verteilungskampf um die Milliarden aus dem Gesundheitsfonds wird seit Jahren mit harten Bandagen geführt. Nun hat sich aus Sicht einiger Kassenchefs eine neue Dimension in der Diskussion um den Risikostrukturausgleich (RSA) aufgetan: Offenbar soll eine AOK – in diesem Fall die AOK Rheinland-Hamburg – in der aktuellen Gesetzgebung speziell bevorzugt werden. Funktionieren könnte dies, so die Befürch­tung, indem zwei von der großen Koalition bereits beschlossene Änderungsanträge zur Morbi-RSA-Finanzierung, die an das Transplantationsregistergesetz angehängt sind, gestrichen werden.

Kassen außerhalb des AOK-Systems befürchten nun, dass ihre Haushalte massiv belastet werden, da die AOK Rheinland-Hamburg 157 Millionen Euro aus Ausgleichs­zahlungen für Auslandsversicherte erhalten sollen. „Wir sind für faire Verhältnisse und Wettbewerbschancen aller gesetzlichen Krankenkassen. In diesem Fall wird aber nach irrationalen Prinzipien entschieden und von einem Mitbewerber Gelder für eine Leistung gefordert, die gar nicht erbracht wurden“, ärgerte sich Christoph Straub, Chef der Bar­mer GEK gestern auf einem Pressegespräch. Und Franz Knieps, Vorsitzender des BKK Dachverbandes, erklärte: „Das ist eine neue Qualität der langjährigen Auseinander­setzungen um den RSA.“

Rückblick lohnend
Die Sache ist komplex und daher lohnt sich ein Rückblick: Im Dezember 2013 wurde im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD festgeschrieben, dass die Vorschläge zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs in ein Gesetz gefasst werden. Dabei sollten – und darauf legen die heutigen Kritiker wert – drei RSA-Komponenten gleich­zeitig reformiert werden: Die Kosten für Versicherte, die „unterjährig“ verstorben sind; das Krankengeld sowie Ausgleichszahlungen von Auslandsversicherten.

Im Juli 2014 trat das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG) in Kraft. Darin wird das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag eingelöst, dass die Neuberechnung der Zuweisungen an die Krankenkassen für Auslandsver­siche­rungen und Krankengeld bereits rückwirkend für die Jahre 2013 und 2014 gelten soll.

Dagegen klagten einige Kassen – die AOK Rheinland/Hamburg erhielt in Sachen Zu­wei­sungen für Auslandsversicherte im Oktober 2015 Recht vor dem zuständigen Landesso­zialgericht Essen. Das Gericht erklärte den Passus aus dem Gesetz von 2014 für unwirk­sam. Auch die Techniker Krankenkasse (TK) klagte, in ihrem Fall gegen die Zuweisun­gen für das Krankengeld, hier gibt es bis heute keine Entscheidung.

Gesetzgeber greift ein
Um die vom Landessozialgericht beanstandete Regelung – eine Entscheidung vom Bundes­sozialgericht steht noch aus – nun rechtssicher zu gestalten, bringen Union und SPD im Mai 2016 einen Änderungsantrag ein, der vom parlamentarischen Zeitablauf an das Transplantationsregistergesetz angehängt werden soll. Die beiden Anträge – Aus­lands­versicherte sowie Krankengeld – stellen klar, dass die rückwirkenden Regelungen für die Jahre 2013/2014 aus dem GKV-FQWG „rechtssicher“ sind. Viele Krankenkassen laufen Sturm dagegen – wird doch hiermit rückwirkend in ihre Haushalte eingegriffen. Außerdem befürchten viele – darunter auch die TK – dass mit den Änderungsanträgen nun regelmäßig Anpassungen des RSA „unterjährig“ vorgenommen werden könnten. Haushaltsplanungen könnten so kaum verlässlich gestaltet werden.

In der parlamentarischen Anhörung vor dem Gesundheitsausschuss am 1. Juni 2016 erklärte der Vorsitzende der AOK Rheinland/Hamburg, Günter Wältermann, dass seine Kasse „Hauptbetroffene der geplanten rückwirkenden Gesetzesänderungen für die Jahre 2013 und 2014“ wäre. Damit würden der Kasse nachträglich 157 Millionen Euro entzo­gen, sagte Wältermann in der Anhörung. „Diese finanzielle Belastung bringt die AOK Rheinland/Hamburg in eine existenzbedrohende Lage“, so Wältermann. Seine Aussagen sind im Protokoll der Sitzung vom Bundestag vermerkt.

Barmer und BKK wehren sich
Gegen diese Aussage wehren sich nun Kassenverbandschefs wie Franz Kieps. „Die AOK Rhein­land/Hamburg ist aus den Daten, die uns vorliegen, wettbewerbsfähig und gewinnt eher Mitglieder, als welche zu verlieren. Sie hat je Mitglied einen höheren Deckungsbeitrag als andere Kassen“, erklärte er gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Aus Sicht der Barmer GEK „werden von einem Mitbewerber Gelder gefordert, für die keine Leistungen erbracht wurden", so Barmer-GEK-Chef Straub.

Die AOK Rheinland-Hamburg pocht auf ihr Recht, dass die bisher verbuchten Beträge durch den Gesundheitsfonds ausgeglichen werden. „Die 157 Millionen Euro sind für uns fest eingeplant und stehen uns rechtlich auch zu. Dies wurde im LSG-Urteil am 29. Oktober 2015 auch bestätigt“, betonte die AOK Rheinland/Hamburg auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblattes.

Weiter erklärte die Kasse, dass sie das Jahr 2015 mit einem Defizit von 150 Millionen Euro abschließen werde. „Nach Bereinigung der Zuweisungen weisen wir im ersten Quartal 2016 ein Defizit von 35 Millionen Euro aus und das bei einem überdurch­schnitt­lichen Beitragssatz“, so die Kasse.

Nach Informationen des Deutschen Ärzteblattes weist die AOK Rheinland/Hamburg eine sogenannte Überdeckung von neun Euro je Versicher­ten auf – deutlich mehr als viele andere Kassen im GKV-System. „Es sind unlautere Methoden, wenn eine Kasse mit falschen Informationen höchste Stellen in der Politik dazu bringen, in das hochkomplexe System des Morbi-RSA einzugreifen“, erklärt BKK-Dachverbands-Vorsitzender Knieps. Denn inzwischen haben sich offenbar nicht nur der stellvertretende SPD-Fraktionsvor­sitzende Lauterbach für die AOK Rheinland/Hamburg eingesetzt – bis in die Spitze der Partei soll die Unterstützung gehen.

Der Vorschlag, die AOK Rheinland/Hamburg könne die Gelder in Höhe von 157 Millionen Euro für das Jahr 2013 behalten, würde aus Sicht der Kassenlager eine faktische Rück­nahme der beiden Änderungsanträge bedeuten. „Die Überlegungen aus der SPD, Son­der­regelungen für einzelne Krankenkassen – insbesondere für die AOK – einzuführen, ist ein wettbewerbspolitischer Irrweg“, erklärte Jürgen Hohnl, Geschäfts­führer des Ver­bandes der Innungskrankenkassen (IKK) gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.

Nach Ansicht mehrerer Kassenchefs würde das auch heißen, dass die 157 Millionen Euro vom gesamten GKV-System ausgeglichen werden müssten – mit zum Teil massiven negativen Folgen für einige Kassen. „Wenn diese Änderungsanträge nicht umgesetzt werden, erwarten wir für einige Kassen aus allen Kassenfamilien eine Erhöhung der Beiträge um mindestens ein Beitragszehntel“, so Straub von der Barmer GEK.

Allerdings hatte SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach in einem Pressehintergrund­ge­spräch, in dem er diese Änderungsvorschläge zugunsten der AOK Rhein­land/Hamburg geäußert hatte, vorgeschlagen, die rund 157 Millionen Euro für die AOK Rheinland/Ham­burg aus den Rücklagen des Gesundheitsfonds auszugleichen. Gleichzeitig müssten Lauterbach zufolge BKKen, die im Jahr 2013 bei den Ausgleichszahlungen zum Kranken­geld zu viele Gelder erhalten haben, diese nicht zurückzahlen. Insgesamt soll es sich groben Schätzungen zufolge um insgesamt rund 400 Millionen Euro handeln, die aus dem Gesundheitsfonds zusätzlich gedeckt werden müssten. Mit dem Vorschlag von Lauterbach würde keine Kasse zusätzlich belastet.

Appell an Gesundheitspolitiker
„Wir appellieren dringend an die Gesundheitspolitiker, die nicht rechtskräftige Einzelfall­entscheidung des LSG Essen nicht zum Anlass zu nehmen, in das Finanzierungssystem der GKV zum Nachteil vieler Kassen einzugreifen“, sagte Straub. Und Hohnel von den IKKen erklärte: „Die Koalition darf diesen Sündenfall nicht begehen, denn der letzte Rest der Akzeptanz des gesamten RSA würde aufs Spiel gesetzt.“

Noch ist allerdings unklar, wie sich die Gesundheitspolitiker der großen Koalition in den nächsten Tagen verhalten werden. Eine mündliche Debatte zum Transplantations­regis­ter­gesetz, in denen die strittigen Änderungsanträge enthalten sind, wird es nach derzei­tigen Planungen nicht geben. Die Debatte ist formal für 25 Minuten angesetzt – aller­dings für die Zeit zwischen 1.20 Uhr und 1.50 Uhr in der Nacht zum Freitag. Daher ist davon auszugehen, dass alle Reden zu Protokoll gegeben werden.

Wie sich die SPD-Fraktion sowie ihr Koalitionspartner nun verhalten, ist noch ungewiss. Eine Möglichkeit könnte sein, die beiden strittigen Änderungsanträge per Hucke-Pack-Verfahren an ein anderes Gesetz nach der Sommerpause anzuhängen und somit dem aktuellen Streit zu entgehen. Zeit genug, um weiter von einzelnen Kassen Einfluss zu nehmen – oder Zeit, die „unlauteren Methoden“ wie es Knieps nennt, zu stoppen.

© bee/aerzteblatt.de

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