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Politik

„Wir brauchen mehr traumatherapeutische Angebote“

Mittwoch, 20. Juli 2016

Würzburg – Ein 17-jähriger Flüchtling hat gestern in einem Regionalzug bei Würzburg mehrere Menschen in einem Zug attackiert. Der unbegleitete Minderjährige schlug mit Axt und Messer auf Passagiere ein und verletzte fünf Menschen schwer. Der Täter wurde von Spezialkräften der Polizei erschossen. Erste Ermittlungen deuten darauf hin, dass sich der Täter, der bereits einen guten Start in Deutschland hatte und in einer Pflege­fa­milie lebte, möglicherweise in den vergangenen Wochen selbst radikalisierte. Im Zimmer des Jungen, der aus Afghanistan oder Pakistan kommen soll, wurde neben einer hand­gemalten Flagge der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) ein Text gefunden, der den Ver­dacht der Radikalisierung untermauert. Außerdem ist ein IS-Bekennervideo des 17-Jä­h­ri­gen aufgetaucht.

Fünf Fragen an Nahlah Saimeh, Ärztliche Direktorin des LWL-Zentrums für Forensische Psychiatrie Lippstadt des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, über Täterstrukturen und Radikalisierungsprozesse.

DÄ: Man denkt zunächst an eine psychische Erkran­kung, die den jungen Flüchtling dazu getrieben hat, eine solch schreckliche Tat zu begehen. Sie plädieren dafür, nicht jede terroristische Tat zu psychiatrisieren …
Nahlah Saimeh: Ich kann natürlich keine Ferndiagnose über diesen jungen Mann stellen. Aber bei solch völlig unvermittelten Einzeltaten, auch mit Waffen, die im Nah­kontakt zur Tötung herangezogen werden, spricht meistens mehr dafür, dass es sich doch um die Tat eines psychisch erkrankten Mannes handelt. Allerdings ruft ja der IS gerade auch Sympathisanten auf, mit relativ einfachen Mitteln Bürger anzugreifen. Terror­anschläge hingegen, also hochgeplante, hochstrukturierte aus einem Netzwerk heraus begangene Taten, sind jedoch meist keine Taten psychisch kranker Menschen. Es gibt zwar auch darunter Menschen, die persönlichkeitsstrukturelle Auffälligkeiten haben oder auch Persönlichkeitsstörungen, aber bei denen die allgemeine Realitäts­kontrolle und Affektkontrolle doch erhalten sind.

Daneben gibt es eine kleine Gruppe von psychisch kranken Tätern, zum Beispiel solche mit schizophrener Psychose, die eben den Realitätskontakt verloren haben, die aber Themen des Terrorismus in ihren Wahn, in ihre Psychose einbauen und daraus dann motivgeleitet handeln. Die Tat sieht dann im Grunde aus wie ein Terroranschlag, ist aber eine Gewalttat eines psychisch kranken Menschen.

DÄ: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, so wie der Täter, kommen häufiger schwer traumatisiert nach Deutschland als andere Flüchtlinge. Könnte man bei diesem Fall an­nehmen, dass eine psychische Störung nicht erkannt wurde?
Saimeh: Es wäre vermessen, darüber urteilen zu wollen. Ein unbegleiteter minder­jähri­ger Flüchtling ist aber natürlich in einer psychosozialen Extremsituation: Er kennt das Land nicht, die Sprache nicht, ist sozial vereinzelt. Er weiß zudem die sozialen Codes nicht zu dechiffrieren, er hat einen völligen Bruch in seiner Biografie erlebt und es gibt möglicherweise Traumatisierungen.

Das sind extreme Belastungen und es erhöht natür­lich das Risiko – im Rahmen des Vulnerabilität-Stress-Modells – für eine psychische Er­krankung, vor allem aus dem Bereich der Psychosen. Im Rahmen einer solchen psycho­tischen Episode steigt das Risiko durchaus auch für Gewalttätigkeit. Diese selbstgemalte IS-Fahne kann auch für eine Suche nach Halt sprechen, um mental andocken zu können in einer Situation, in der jemand weitgehend orientierungslos ist. Aber natürlich kann es im Einzelfall auch ganz anders sein. Dazu bräuchte man deutlich mehr Hintergrund­infor­ma­tionen.

DÄ: Kommen wir noch einmal zu ihrer Aussage, dass man Terrorismus nicht psychiatri­sieren sollte.
Saimeh: Das ist losgelöst von diesem speziellen Fall unbedingt richtig. Terrorismus hat nichts mit psychischen Erkrankungen zu tun. Das hieße auch, die Taten gewissermaßen in ihrer Bedeutung abzuschwächen, zu bagatellisieren. Die Bekämpfung von Krank­heiten ist Aufgabe der Medizin, die Bekämpfung von Terror eine globale politische und gesell­schaft­liche Aufgabe. Die Psychiatrie hat nicht die Aufgabe, politische Überzeu­gungen, und seien sie auch noch so extrem, zur Krankheit zu erklären. Das kennt man von Dikta­turen.

Bei schizophrenen Psychosen kennen wir das Phänomen, dass Themen, die in der Ge­sell­schaft virulent sind, auch in psychotische Denkinhalte übernommen werden. In den Achtzigerjahren beispielsweise, als die Atomkatastrophe in Tschernobyl die gesell­schaft­liche Diskussion bestimmte, war das große Thema, alles sei radioaktiv verstrahlt. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass gegenwärtig auch das Thema „Dschihad“ oder „IS“ in psychotischen Denkmustern auftaucht und womöglich handlungswirksam wird.

Bei Menschen, die sich dem Extremismus und Terrorismus zuwenden, gibt es vor allem zwei weitere Gruppen von Tätern: Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen, die gewalt- und aggressionsbereit sind und mit den sozialen Normen oft auch anderweitig in Konflikt geraten. Daneben gibt es paranoide Persönlichkeiten, die also besonders zu Verschwörungstheorien neigen.

Borderline-Persönlichkeitsstörungen können junge Männer auch anfällig machen für Radikalisierung, weil diese Störung nur ein Schwarz-Weiß-Denken kennt. Die zweite Gruppe sind Menschen, die nicht per se gewaltbereit oder kriminell sind, sondern die sich kontextbezogen radikalisieren: Bürger, die sich aufgrund von Unzufriedenheiten oder Problemen in der Gesellschaft, die sie wahr­neh­men, auflehnen. Diese Menschen sind anfällig, wenn die Demagogie entsprechend passend gewählt ist, sich in die Radikalisierung hineinziehen zu lassen.

DÄ: Wie sollten Ärzte, vor allem Psychiater und Psychotherapeuten, mit radikalisierten Patienten umgehen?
Saimeh: Bei einer psychischen Erkrankung im engeren Sinne, also bei Störungen aus dem psychotischen Formenkreis, ist die klassische pharmakologische Behandlung an­gezeigt. Menschen mit schizophrenen Psychosen haben ein Anrecht auf eine Behand­lung, egal, welche Thematik in der Psychose vorherrscht.

Bei Menschen, die sich anderweitig radikalisieren, spielt eine ganz große Rolle in der De-Radikalisierungsarbeit, was eigentlich deren Bedürfnisse sind. Radikalisierung erfüllt ja eine Bedürfnisstruktur. Wir müssen herausfinden, um welche Orientierung, welche Frustation, um welche Wut, welches Gefühl der Benachteiligung es eigentlich geht in deren subjektivem Erleben, weshalb eine extremistische Orientierung gewählt wird. Es geht bei persönlichkeitsstrukturellen Problemen auch darum, den Selbstwert anders zu besetzen. Das sind natürlich längere therapeutische Prozesse.

Via Internet versucht man jetzt auch, junge Menschen präventiv immun zu machen gegen Radikalisierung, indem man auch andere Narrative entwickelt, um unsere komplexe Welt zu begreifen und seinen eigenen Platz darin zu finden.

: Müsste die Gesellschaft, die Kinder- und Jugendhilfe, die Politik und auch das Gesundheitswesen, nicht noch mehr tun, um Radikalisierungsprozessen bei jungen Flüchtlingen vorzubeugen?
Saimeh: In Bezug auf das Gesundheitsweisen brauchen wir sicher mehr psychiatrische und psychotherapeutische Angebote für Flüchtlinge, die Hilfe benötigen. Wir brauchen vor allem auch mehr traumatherapeutische Angebote.

Ich glaube aber auch, es ist eine gesamtgesellschaftliche politische Aufgabe, die dort ansetzen muss, unsere Werte und Normen zu erklären und echte Teilhabe an der Ge­sell­schaft zu ermöglichen. In den letzten vierzig Jahren hat sich unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt mit sehr abstrakten Normen und Werten. Bildung ist unerlässlich, um diese zu verstehen und sich selbst daran zu orientieren.

Diese Idee, dass man in unserer Gesellschaft alles tun und lassen kann, was man will, ist ja falsch. Es gibt Rahmensetzungen, die man den Menschen aber auch nahebringen muss. Terro­risten kennen allerdings unsere Normen und Werte, lehnen sie fundamental ab und wollen sie sehr aktiv zerstören. Diese Hintergründe aufzuzeigen dürfte eher die Domäne der Politikwissenschaften und der Historiker sein. © pb/aerzteblatt.de

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