Ärzteschaft
Kinderarmut in Deutschland: Ärzte fordern Unterstützung für Familien in sozialen Brennpunkten
Montag, 12. September 2016
Köln/Gütersloh – Kinder, die in sozialen Brennpunkten aufwachsen, müssen bessere Chancen erhalten, ihre Neigungen und Kompetenzen zu entfalten und gesund aufzuwachsen. Das fordert der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Laut einer heute erschienenen Studie der Bertelsmann Stiftung waren 2015 14,7 Prozent der unter 18-Jährigen auf Hartz IV angewiesen. Im Jahr 2011 waren es nur 14,3 Prozent. Die Mehrheit der Kinder in Hartz IV wächst laut Untersuchung über einen längeren Zeitraum in Armut auf: Von den betroffenen Kindern im Alter von sieben bis unter 15 Jahren bezogen 57,2 Prozent drei und mehr Jahre die Leistungen.
„Ein Kind in einem sozial schwachen Stadtviertel hat ein viel höheres Risiko, an Übergewicht zu erkranken, psychische Störungen zu entwickeln und mit dem Rauchen und anderen Drogen anzufangen“, warnte BVKJ-Präsident Thomas Fischbach mit Verweis auf Ergebnisse der sogenannten KIGGS-Studie.
Kinder aus sozial benachteiligten Stadtvierteln erreichten seltener höhere Schulabschlüsse, sie stellten den Großteil der Schulabbrecher. „Diese Benachteiligung schadet nicht nur den betroffenen Kindern und Jugendlichen selbst, sondern die Gesellschaft verliert dadurch auch wertvolle Ressourcen“, kritisierte der BVKJ-Vorsitzende.
Der Verband fordert von der Politik ein Qualitätsgesetz für Kindertageseinrichtungen mit verbindlichen Personalschlüsseln und Qualitätsvorgaben. „Nur so ist eine kompensatorische Förderung benachteiligter Kinder und damit Bildungsgerechtigkeit möglich“, so Fischbach. Wichtig sei außerdem, sozial schwache Familien gezielt durch Familienhebammen und weitere wohnortnahe niedrigschwellige Beratungsangebote zu unterstützen. Der BVKJ fordert außerdem Schulkrankenschwestern an allen Schulen und eine bessere Ausstattung mit Kinder- und Jugendarztpraxen.
„In sozial problematischen Stadtvierteln haben wir heute eine zunehmende Unterversorgung mit Kinder- und Jugendärzten. Dies hängt damit zusammen, dass das derzeitige Honorarsystem den Betrieb einer Praxis in einer Gegend ohne Privatpatienten schlicht unrentabel macht“, warnte Fischbach. Der Verbandsvorsitzende kritisierte außerdem, dass in sozial benachteiligten Stadtvierteln oft Grünflächen fehlten, wo Kinder sich im Freien bewegen könnten. „Wir brauchen endlich eine Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz und in allen Parlamenten Kinderbeauftragte nach dem Vorbild der Wehrbeauftragten“, so eine weitere Kernforderung des Verbandes.
Laut Bertelsmann-Studie nimmt die Kinderarmut im Bundesdurchschnitt zu, allerdings gibt es regional große Unterscheide: So ist die Quote in Ostdeutschland gegenüber 2011 gesunken, bleibt mit 21,6 Prozent aber auf hohem Niveau. Im Westen ist die Quote 2015 mit 13,2 Prozent höher als 2011, als sie bei 12,4 Prozent lag. In neun von 16 Bundesländern ist der Anteil von Kindern in staatlicher Grundsicherung zwischen 2011 und 2015 gestiegen. Am stärksten wächst die Quote in Bremen mit plus 2,8 Prozent, im Saarland mit plus 2,6 Prozent und in Nordrhein-Westfalen mit plus 1,6 Prozent.
„Kinderarmut beeinträchtigt die Chancen für das ganze Leben. Um gezielt gegen Kinderarmut und ihre Folgen vorzugehen, brauchen wir mehr Fakten“, sagte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung. Er kritisierte, bislang würden die Folgen von Einkommensarmut für Kinder in Deutschland weder systematisch noch regelmäßig untersucht. Bekannt sei aber, dass die Folgen für ihre Entwicklung umso negativer seien, je länger Kinder in Armut lebten.
„Kinder in Armut können ihre Lebenssituation nicht selbst ändern. Deshalb hat der Staat hier eine besondere Verantwortung. Kinderarmut in Deutschland darf sich nicht weiter verfestigen. Darum muss sich die Existenzsicherung daran orientieren, was Kinder für gutes Aufwachsen und Teilhabe brauchen“, betonte Dräger. Er forderte, die Grundsicherung von Kindern in Deutschland müsse „komplett neu gedacht werden und sich am tatsächlichen Bedarf von Kindern und Jugendlichen orientieren“. Nur so könne Kinderarmut wirksam bekämpft werden.
„Die sozial- und familienpolitischen Instrumente reichen nicht aus, um Kinder- und Jugendarmut zu vermeiden“, sagte Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland anlässlich der Veröffentlichung der Bertelsmann-Studie. Sie forderte, „die Politik muss endlich diesen unhaltbaren Zustand beenden, der Kinder so nachhaltig in ihrer gesundheitlichen Entwicklung, in ihren Bildungschancen sowie in ihrer gesamten Lebensbiografie beeinträchtigt“.
Das Deutsche Kinderhilfswerk sprach von einem „erneuten Weckruf“ an die Bundesregierung. Die Tatsache, dass trotz guter Konjunktur die Kinderarmut „auf einem skandalös hohen Niveau verharrt“, offenbare ein strukturelles Problem, kritisierte Präsident Thomas Krüger.
Auch die Opposition warf der Regierung Untätigkeit vor. „Wir brauchen eine Kindergrundsicherung, die das Existenzminimum von Kindern garantiert und die Familien mit unteren und mittleren Einkommen entlastet“, sagte der sozialpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Wolfgang Strengmann-Kuhn. Die Bundesregierung vernachlässige dieses Thema völlig.
„Es ist ein Skandal, dass so viele Kinder in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen müssen“, erklärte die stellvertretende Fraktionschefin der Linken im Bundestag, Sabine Zimmermann.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund forderte die Regierung auf, den gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden konzipierten Aktionsplan zur Unterstützung von Hartz-IV-Familien umzusetzen. Dafür seien 280 Millionen Euro jährlich vorgesehen. © hil/afp/aerzteblatt.de

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