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Politik

Fettleibige Menschen sind in Deutschland „eklatant unterversorgt“

Donnerstag, 15. September 2016

/dpa

Hamburg/Berlin – Sowohl die Weltgesundheitsorganisation als auch die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) führen die Adipositas als endokrine Ernährungs- und Stoffwechselkrankheit. „Hingegen erkennen die deutschen Krankenkassen Adipositas nicht als solche an“, kritisierte gestern Christoph-Thomas Germer, Kongresspräsident der Viszeralmedizin 2016, auf einer Pressekonferenz in Berlin. Vor allem bei der morbiden Adipositas ergebe sich daraus eine „eklatante Unterversorgung“.

Laut Statistischem Bundesamt (2014) sind über 50 Prozent der Deutschen (62 Prozent der Männer und 43 % der Frauen) übergewichtig, davon wiederum sind 21 Prozent adipös.

Anders als in europäischen Nach­bar­staaten bleibt Betroffenen in Deutsch­land eine Versorgung nach medizinisch-wissenschaftlichem Standard oftmals versagt. Denn die nachge­wiesen­er­ma­ßen wirksamste Form der Therapie – ein adipositas-chirurgischer Eingriff – wird hierzulande selbst bei leitliniengerechter Indi­ka­ti­on nur nach Einzelfallprüfung und unregelmäßig von den Krankenkassen übernommen. „Wir beobachten auch regionale Unterschiede, die nicht nachvollziehbar sind“, sagte der Direktor der Chirurgischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums Würzburg.

Eine mögliche Erklärung für das restiktive Verhalten der Krankenkassen: Eine adäquate Adipositasbehandlung könnte Schätzungen zufolge jährliche Kosten von 14 Milliarden Euro verursachen, so Germer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie. Dabei würde die bariatrische Chirurgie nach heutigen Studien bei fett­leibigen Menschen eine Reduzie­rung der langfristigen Versorgungskosten verursachen, ist sich auch Florian Seyfried, Oberarzt der Chirurgischen Klinik und Poliklinik des Uni­versitätsklinikums Würzburg sicher. „Es ist völlig unstrittig, dass die Adipositaschirurgie beim überwiegenden Teil der Patienten zu einem nachhaltigen Gewichtsverlust führt, die Lebensqualität verbessert und – was noch sehr viel wichtiger ist – Begleiterkrankungen wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Leiden signifikant verbessert“, so Seyfried.

Bariatrische Chirurgie: Magenbypass bevorzugte Operation

Nach zehn Jahren Laufzeit des deutschen Registers „Bariatrische Chirurgie“ stehen die Daten von mehr als 45 000 Patienten zur Verfügung. Die Wahl des Verfahrens ist immer eine Einzelfallentscheidung, es existiert kein Goldstandard.

Chirurgische Maßnahmen zur Reduzierung des Übergewichts, etwa ein Magenbypass oder die Bildung eines Schlauchmagens, empfehlen Ärzte nur bei extremer, krankhafter Fettleibigkeit und nach Versagen oder nicht aussichtsreicher konservativer multimodaler Therapie. Sie kommen nach aktuellen Leitlinien ab einem Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 40 kg/m² infrage, oder ab 35 kg/m², sofern bereits schwere Folgeerkrankungen wie Diabetes vorliegen. In Deutschland erfüllen diese Kriterien aktuell rund zwei Millionen Menschen. Adipositaschirurgische Eingriffe wurden 2015 allerdings nur bei 9.932 Be­troffenen durchgeführt. In westlichen Nachbarländern wie Frankreich, Belgien oder den Niederlanden liegen die Eingriffszahlen im Verhältnis zur Bevölkerung deutlich höher.

Diäten helfen meist nicht langfristig
Gerade bei extremer Fettleibigkeit scheiterten konservative Programme zur Gewichts­reduktion langfristig regelhaft, so die Mediziner. „Bei einem BMI von 40 kg/m² und mehr wäre eine Gewichtsabnahme von mitunter 50 Kilogramm notwendig – dies ist durch Ernährungsumstellung und Bewegung nur im Ausnahmefall zu schaffen, selbst wenn diese Maßnahmen durch Ärzte und Ernährungstherapeuten begleitet werden“, berichtete Seyfried. Auch deshalb, weil der Körper evolutionär bedingt außergewöhnlich effektive Verteidigungsstrategien auffahre, um Energiereserven zu schützen.

„Ohne Zweifel ist die Prävention des Übergewichts und seiner Ursachen – Bewegungs­mangel und Fehlernährung – eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe, um Folge­erkrankungen und Folgekosten zu verhindern“, betonte Germer. „Gleichzeitig ist es nicht akzeptabel, dass Menschen mit krankhaftem Übergewicht wirksame Therapien vorent­hal­ten werden.“ Die Betrachtung und Behandlung der stigmatisierten Erkrankung Adipositas müsse sich dringend ändern, forderte Germer. © gie/aerzteblatt.de

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