Medizin
Prostatakarzinom: Androgendeprivation könnte Demenz auslösen
Freitag, 14. Oktober 2016
Palo Alto – Die Androgendeprivationstherapie, die beim fortgeschrittenen Prostatakarzinom die Überlebenszeit verlängern kann, begünstigt möglicherweise die Entwicklung einer Demenz. Dies kam in einer Kohortenstudie in JAMA Oncology (2016; doi: 10.1001/jamaoncol.2016.3662) heraus.
Die Androgendeprivation, die früher durch eine Kastration erfolgte, wird heute in der Regel mit Medikamenten durchgeführt. Die Ausschaltung von Testosteron, einem wichtigen Wachstumsfaktor für die Krebszellen, kann beim fortgeschrittenen Prostatakarzinom das Fortschreiten des Tumors über viele Monate stoppen. Die Therapie ist jedoch nicht frei von Nebenwirkungen, zu denen möglicherweise auch neurokognitive Störungen gehören.
Dies ist derzeit nur eine Vermutung, die im Prinzip in randomisierten klinischen Studien überprüft werden müsste. Für diese Studien fehlen jedoch die finanziellen Ressourcen. Kevin Nead von der Perelman School of Medicine in Philadelphia und Mitarbeiter haben deshalb zu einer kostengünstigen Alternative gegriffen: der retrospektiven Analyse von Krankenakten.
Diese Analysen sind heute ohne große Aufwand möglich, weil die Patientendaten in der Regel elektronisch gespeichert werden. Dabei werden Demenzen nicht notwendigerweise als Nebendiagnose vermerkt. Häufiger kommt es zu Anmerkungen im Freitextbereich der Akten. Bioinformatiker der Stanford University School of Medicine haben ein Verfahren entwickelt, dass alle Inhalte der elektronischen Aufzeichnungen nach bestimmten Begriffen durchsucht, die auf eine Krankheit hinweisen. Die „linguistische“ Software kann dabei unterscheiden, ob die Begriffe dem Patienten zugeordnet wurden und ob etwa ein Ausschluss (etwa „keine Demenz erkennbar“) vorliegt.
Nead hat die Software auf 9.272 Patienten angewendet, die an der Stanford University School of Medicine wegen eines fortgeschrittenen Prostatakarzinoms behandelt wurden. Jeder fünfte hatte eine Androgendeprivationstherapie (ADT) erhalten. Von diesen Patienten entwickelten 7,9 Prozent innerhalb der ersten fünf Jahre eine Demenz. Bei den Patienten, die keine ADT erhalten hatten, erkrankten nur 3,5 Prozent an einer Demenz. Für Patienten, die wenigstens zwölf Monate lang behandelt wurden, ermittelte Nead eine Hazard Ratio von 2,36, die mit einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 1,64 bis 3,38 hochsignifikant war. Besonders gefährdet waren Patienten im Alter von über 70 Jahren.
Die Ergebnisse der Studie sind von klinischer Relevanz, bedeuten sie doch, das einer von 22 Patienten (Number needed to Harm) unter einer ADT zusätzlich an einer Demenz erkranken wird. Dies könnte im Einzelfall den Verzicht auf eine „Hormonbehandlung“ rechtfertigen, obwohl diese Entscheidung die Lebenszeit des Patienten verkürzen würde.
Allerdings sind retrospektive Studien anfällig für Verzerrungen. Es könnte sein, dass die ADT mit anderen Patienteneigenschaften (zerebrale Begleiterkrankungen) oder Therapieentscheidungen (Radiotherapie) verknüpft war, die für sich genommen mit einem Demenzrisiko verbunden sind. Sind diese Eigenschaften ungleich verteilt, gerät eine retrospektive Studie schnell in eine Schieflage. Nead glaubt, diese Verzerrungen weitgehend ausgeschlossen zu haben, sicher ist dies jedoch nicht.
Ärzte stehen immer häufiger vor dem Dilemma, ihre Entscheidungen auf Datenbankanalysen stützen zu müssen. Diese sind heute in kurzer Zeit und mit geringem Kostenaufwand möglich. Nead hofft, Anfragen schon bald so rasch wie eine „Google“-Suche beantworten zu können. Wie bei der Suchmaschine dürften die Antworten in hohem Maße davon abhängen, wie geschickt die Anfrage gestellt wurde. © rme/aerzteblatt.de

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