Medizin
Querschnittgelähmter nimmt über Hirnimplantate Berührungen wahr
Montag, 17. Oktober 2016
Pittsburgh – Elektrische Impulse an vier Implantaten auf dem Gyrus postcentralis, wo der für taktile Empfindungen zuständige somatosensorische Cortex lokalisiert ist, ermöglichten es einem querschnittgelähmten Mann, die Signale von Drucksensoren eines Arm-Roboters als Berührungssignale wahrzunehmen. Die in Science Translational Medicine (2016: doi: 10.1126/scitranslmed.aaf8083) vorgestellten Ergebnisse sind ein weiterer Schritt hin zu einer lebensechten Armprothese, die es dereinst über ein Hirn-Computer-Interface Amputierten ermöglichen soll, (mehr als) einfache Tätigkeiten durchzuführen.
Während das Laufen keine großen Anforderungen an die Sensorik stellt und Träger von Beinprothesen zu olympiareifen Leistungen in der Lage sind, ist die Situation bei der Hand anders. Die oberen Extremitäten sind für handwerkliche Tätigkeiten zuständig. Die feingliedrigen Bewegungen gelingen nur, wenn das Gehirn eine Rückmeldung darüber erhält, ob die Hand ein Glas oder einen Ballon hält. Die Muskeln dürfen nur so weit kontrahiert werden, dass das Glas nicht zerbricht, der Griff muss aber fest genug sein, damit der Ballon den Fingern nicht entgleitet.
Forscher des Brain Institute an der Universität Pittsburgh ist ein wichtiger Schritt hin zu einer lebensechten Prothese gelungen. Die Experimente wurden nicht mit einem Amputierten, sondern mit einem Tretraplegiker durchgeführt. Der 28 Jahre alte Patient war seit einem Unfall vor zehn Jahren an Armen und Beinen gelähmt und (weitgehend) empfindungslos.
In einer Operation implantierten ihm Neurochirurgen der Pitt School of Medicine vier kleine Platten mit jeweils 32 Mikroelektroden auf den Gyrus postcentralis des Parietallappens. An diesem Ort treffen die sensorischen Signale des Körpers ein, und zwar aus verschiedenen Regionen an unterschiedlichen Bereichen eines Homunculus, den der kanadische Neurologe Wilder Penfield bereits in den 50er Jahren beschrieb und den jeder Medizinstudent im Anatomiekurs kennenlernt. Die Implantate wurden dort platziert, wo Daumen, Finger und Handfläche im Homunculus repräsentiert sind.
In den ersten Tagen nach der Operation spürte der Patient, wie das Team um Robert Gaunt berichtet, noch nichts. Auch etwas stärkere Impulse in den Elektroden lösten keine Empfindungen aus. Dann kam es plötzlich auch ohne Stimulation zu spontanen Empfindungen, die der Patient als Kitzeln im rechten Arm beschrieb.
Diese „Phantom“-Gefühle verschwanden schließlich und in der vierten Woche nahm der Patient erstmals Signale aus den Implantaten wahr, die er unterschiedlichen Bereichen von Handfläche und Fingern zuordnete. Die Empfindungen hatten für den Patienten zu 93 Prozent eine normale Qualität, und sie unterschieden sich eindeutig von den Schmerzen, die durch die elektrische Reizung der Haut ausgelöst wurden – der Patienten verfügte noch über eine Restsensibilität an den Händen.
Durch die Stimulation einzelner Elektroden konnten die Forscher später gezielte Druckempfindungen an bestimmten Orten der einzelnen Finger und am Daumen auslösen. Die Intensität der Druckempfindungen konnte durch Änderung der elektrischen Impulse (im Bereich von 20 bis 100 Mikro-Ampère) variiert werden. Der Patient unterschied vier bis sechs unterschiedliche Druckqualitäten.
Über die weitere Dauer der Studie vergrößerte sich die Zahl der Elektroden, auf die der Patient ansprach, sogar noch weiter. Bisher sei es nicht zum Ausfall einzelner Elektroden gekommen, versichert Gaunt, der dies als eine wichtige Voraussetzung für permanente Implantate betrachtete.
Im nächsten Schritt wurden die Implantate über einen Computer mit einer „Modular Prosthetic Limb“ (MPL) verbunden, einem Roboter-Arm den die Johns Hopkins Universität als Prototyp für eine berührungsempfindliche Prothese entwickelt hat. Der MPL ist mit verschiedenen Sensoren ausgerüstet, darunter auch sogenannte Torque-Sensoren (Drehmomentaufnehmer), die Formveränderungen wahrnehmen und in elektrische Impulse verwandeln.
Die Sensoren an den Fingern des Roboters wurden mit den Elektroden der Implantate verknüpft, die der Patient vorher den entsprechenden Fingern zugeordnet hatte. In ersten Experimenten berührten die Forscher einzelne Finger der Roboter-Hand und der Patient, der den Roboter nicht sah, konnte zu mehr als 80 Prozent die berührten Finger benennen. Wenn die Untersucher zwei Finger des Roboter-Arms berührten, lag die Trefferrate bei etwa der Hälfte.
Der nächste Schritt könnte darin bestehen, einem Patienten zusätzliche Chips in den Gyrus präcentralis, dem primären motorischen Cortex zu implantieren. Vor zwei Jahren hatte das Forscherteam einer 52jährigen Patientin zwei Implantate mit jeweils 96 Elektroden implantiert.
Die Patientin war daraufhin in der Lage, einen Roboter-Arm allein mit ihren Gedanken zu steuern. Die Bewegungen waren jedoch noch recht grob. Die Kombination beider Elektroden könnte es einem Patienten ermöglichen, die Kraft seiner Arm- und Fingerbewegungen durch die sensiblen Signale aus den Sensoren auf die Situation anzupassen, was das Hantieren mit Glas oder Ballon erleichtern könnte. © rme/aerzteblatt.de

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