Politik
„Es gibt nicht viele, die sich vorstellen können, was ein Atomangriff anrichten würde“
Freitag, 21. Oktober 2016
Berlin – Die Organisation „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung“ (IPPNW) hat – unterstützt von Bundesärztekammer und anderen Akteuren – den „Gesundheitsappell gegen Atomwaffen“ ins Leben gerufen, der online von Angehörigen der Gesundheitsberufe unterzeichnet werden kann. Mit dem Appell will die Ärzteorganisation IPPNW nach eigenen Worten Einfluss auf eine derzeitige Abstimmung in der UN nehmen und Druck auf die Bundesregierung ausüben, sich zumindest zu enthalten. Knapp 1.500 Unterzeichner gibt es bereits. Gesammelt werden soll bis zur Verhandlungskonferenz über ein Atomwaffenverbot im nächsten Jahr.
Fünf Fragen an Alex Rosen, stellvertretender IPPNW-Vorsitzender.
DÄ: Herr Rosen, warum rufen Sie gerade jetzt zu der Aktion auf? Spielen auch die vermehrten Spannungen zwischen Russland und den USA eine besondere Rolle?
Alex Rosen: Natürlich beobachten wir mit großer Sorge, dass derzeit sowohl die NATO als auch Russland ihre Atomwaffenarsenale modernisieren und zu den Drohgebärden des Kalten Kriegs zurückkehren. Wir leben immer noch in einer Welt, in der zwei Menschen – der russische oder der US-amerikanische Präsident – das Schicksal der Menschheit und das unseres Planeten im sehr wörtlichen Sinne in ihrer Hand haben. Gerade deshalb ist unser Appell so wichtig – zu einer Zeit, in der wir der Ächtung von Atomwaffen näher sind als vielleicht jemals zuvor.
Sechs atomwaffenfreie Staaten, darunter die EU-Staaten Österreich und Irland, haben der UN eine Resolution vorgelegt, die im Jahr 2017 Verhandlungen über einen neuen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen vorsieht. Die große Mehrheit der Staaten der Welt ist nicht länger bereit, die Hinhaltetaktik der Atomwaffenstaaten weiter hinzunehmen. In einem waren sich die Atomwaffenstaaten nämlich bislang sehr einig – dass sie ihre gefährlichen und inhumanen Massenvernichtungswaffen behalten wollen. Und genau diesen Punkt spricht die Resolution an, die in der UN-Vollversammlung in New York derzeit verhandelt wird: Kein Staat der Welt sollte das Recht oder die Möglichkeit haben, per Knopfdruck Millionen von Menschen und ganze Städte zu vernichten.
DÄ: Sie betonen auf der Internetseite gesundheitsappell-atomwaffenverbot.de, der Öffentlichkeit werde verschwiegen, dass tausende von Atomwaffen auch heute jederzeit das Leben innerhalb von Minuten zerstören und den Überlebenden unermessliche Leiden zufügen können. Was genau wird von wem verschwiegen?
Rosen: Wir wissen heute, dass weniger als ein Prozent der derzeitigen Atomwaffenarsenale der neun Atomwaffenstaaten ausreichen würden, um den Planeten in eine zehnjährige Eiszeit zu stürzen. Wir wissen, dass ein regionaler Atomkrieg, beispielsweise zwischen Indien und Pakistan, nukleare Hungersnöte zur Folge hätte, die mehr als zwei Milliarden Menschen das Leben kosten könnten. Wir wissen, dass die USA und Russland innerhalb weniger Minuten das Ende der menschlichen Zivilisation einläuten könnten. Wir wissen, dass auch hier in Deutschland US-amerikanische Atombomben stationiert sind und diese aktuell für rund zehn Milliarden Dollar zu lenkbaren Präzisionswaffen umgebaut werden. Die WHO, das Internationale Rote Kreuz und der Weltärztebund haben Atomwaffen als die größte Gefahr für das Überleben der Menschheit identifiziert. Aber die Menschen sprechen nicht darüber. Und die Medien schweigen weitgehend.
Wenn auf der Bundespressekonferenz das Thema auf die Gefahr der Atomwaffen in Deutschland kommt, verlieren sich die Regierungsvertreter in inhaltslosen Floskeln. Wir haben keine Zensur in Deutschland, aber was das Thema Atomwaffen angeht, herrscht ein ohrenbetäubendes Stillschweigen. Ich kann das verstehen – es ist vielleicht nicht „neu“ oder „trendig“, aber es betrifft uns alle. Das Problem liegt ja nicht allein bei den Medien oder der Politik – sondern vor allem bei uns, der kritischen Öffentlichkeit, die viel mehr tun müsste, um die Informationen einzufordern. Wir alle haben uns nach Ende des Kalten Krieges in der falschen Sicherheit gewogen, dass die atomare Bedrohung zu Ende sei. Aber das ist nicht der Fall. Die Gefahr eines erneuten Einsatzes von Atomwaffen ist heute sogar wahrscheinlicher als während des Kalten Krieges.
DÄ: Sie warnen darüber hinaus davor, dass Ärzte im atomaren Ernstfall nicht helfen können. Müsste nicht jedem Menschen klar sein, dass medizinische Hilfe in einem solchen Fall begrenzt wäre – oder verdrängen die Menschen die Gefahren?
Rosen: Es gibt nicht viele Menschen, die sich wirklich vorstellen können, was ein Atomangriff auf eine moderne Großstadt anrichten würde. Hunderttausende Menschen könnten innerhalb weniger Minuten sterben und mehrere Millionen in den folgenden Tagen. Atomwaffen sind die schrecklichsten Massenvernichtungswaffen, die je geschaffen wurden. Sie töten ohne Unterschied – Soldaten, Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder. Die medizinische Infrastruktur nach einer Atomexplosion ist völlig zerstört, die meisten potenziellen Helfer selbst verletzt oder verstorben. Durch den elektromagnetischen Puls wären Strom- und Telekommunikationsnetze unbenutzbar – ein totales Chaos, in dem keine substanzielle Hilfe für die Betroffenen möglich wäre.
Jedem Juristen, Politiker und einfachen Bürger mit Menschenverstand muss klar sein, dass diese Waffen gegen jeglichen völker- und kriegsrechtlichen Grundsatz verstoßen. Und dennoch ist der Besitz dieser Massenvernichtungswaffen und die Androhung eines Atomschlags weiterhin erlaubt. Dies ist eine Lücke im internationalen Völkerrecht, die geschlossen werden muss. Wie biologische und chemische Waffen, wie Landminen und Streubomben müssen Atomwaffen endlich auch durch einen verbindlichen völkerrechtlichen Vertrag geächtet und anschließend abgeschafft werden.
DÄ: Sie fordern die Regierung in Deutschland auf, die bestehende Stationierung von Atomwaffen in Deutschland umgehend zu verbieten. Glauben Sie, der Appell hat eine Chance, politisch umgesetzt zu werden?
Rosen: Ja. Der Deutsche Bundestag hat bereits 2010 fraktionsübergreifend den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland gefordert. Damals folgten auf diese hehre Ankündigung leider keine Taten, vermutlich weil der Druck aus der Zivilbevölkerung noch nicht groß genug ist. Dabei zeigen Umfragen konstant überwältigende Mehrheiten für atomare Abrüstung: In einer repräsentativen bundesweiten Forsa-Umfrage sprachen sich erst dieses Jahr wieder 85 Prozent der Befragten für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland aus, 93 Prozent befürworten ein völkerrechtliches Verbot.
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Ziel muss es sein, diese Mehrheiten auch zu aktivieren und den Druck auf die Politik zu erhöhen, damit den Worten auch Taten folgen. Aktuell ist es so, dass die deutsche Bundesregierung auf dem internationalen Parkett einer der größten Bremser bei der Ächtung von Atomwaffen ist und sich, an der Seite der NATO-Allierten, einem völkerrechtlichen Verbot von Atomwaffen aktiv entgegenstellt. Insofern wäre schon eine deutsche Enthaltung bei den anstehenden UN-Abstimmungen als Erfolg zu werten.
DÄ: Inwiefern halten Sie Ihre politischen Ziele für realistisch? Was haben Sie in den vergangenen 36 Jahren erreicht?
Rosen: Als die IPPNW 1980 von sowjetischen und US-amerikanischen Ärzten und Ärztinnen gegründet wurde, befand sich die Welt an der Schwelle eines Atomkriegs zwischen den USA und Russland. Mehr als ein Dutzend Ereignisse sind uns heute aus ehemaligen Geheimdokumenten bekannt, in denen schieres Glück oder das mutige Verhalten eines einzelnen Menschen die Katastrophe verhindert hat. Wir würden dieses Interview heute nicht führen, wenn ein sowjetischer Leutnant namens Stanislav Petrov am 26. September 1983 seine Anweisungen befolgt und auf einen vermeintlichen amerikanischen Erstschlag mit dem Abschuss der sowjetischen Langstreckenraketen reagiert hätte.
Die amerikanischen Atomraketen stellten sich als Wetterphänomene heraus, aber die Heldentat dieses einen Mannes, der die Welt vor der Zerstörung bewahrt hat, war real. In dieser Zeit brachte die IPPNW Mikhail Gorbatschow und Ronald Reagan an den Verhandlungstisch, um über atomare Abrüstung zu verhandeln. Dafür erhielt unsere Organisation 1985 den Friedensnobelpreis. Nach jahrelanger Lobbyarbeit und Protest-Aktionen der IPPNW wurde zehn Jahre später der umfassende Atomteststoppvertrag in der UN-Vollversammlung verabschiedet. Wir können nicht sagen, wie der Kurs der Geschichte gelaufen wäre, wenn die Mediziner ihre Politiker damals nicht an ihre Menschlichkeit erinnert hätten. Aber wir wissen, dass wir einen Beitrag leisten konnten, um die Welt vor dem Atomkrieg zu bewahren.
Auch heute können wir uns als Mediziner, Wissenschaftler, Bürger und Aktivisten für eine atomwaffenfreie Welt engagieren. Deshalb haben wir die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) gegründet und gemeinsam mit progressiven Staaten und mehr als 400 Partnern in aller Welt die Rahmenbedingungen geändert, in denen über Atomwaffen diskutiert wird.
Wir sprechen heute nicht mehr von atomarer Abschreckung oder strategischem Nutzen, sondern von den katastrophalen humanitären Folgen von Atomwaffen und ihren völkerrechtlichen Implikationen. Dieses „Reframing“ hat den Grundstein gelegt für die aktuellen Bestrebungen nach einem Verbotsvertrag. Die nächsten Monate werden uns unserem Ziel – einer Beendigung der atomaren Bedrohung – näherbringen, als wir es vermutlich seit Beginn des atomaren Zeitalters waren. © may/aerzteblatt.de

Das kollektive Gedächtnis hat Alzheimer
Über den militärischen Sinn der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki kann man streiten. Japan hat nicht wegen der Atombomben kapituliert sondern wegen des Kriegseintritts der UdSSR um Gebietsforderungen Stalins zuvorzukommen und um das Kaisertum zu retten. Aber die Schrecken dieser beiden Atombomben haben sich in das kollektive Gedächtnis der Menschheit gebrannt und die nukleare Abschreckung überhaupt erst ermöglicht. Trotzdem gab es mehrere kritische Situationen. Was wäre z.B. passiert, wenn bei der Kubakrise nicht Kennedy sondern ein Politiker vom Schlag eines Donald Trump die Entscheidungen getroffen hätte? Angesichts der Vielzahl an aktuellen Konflikten ist aus meiner Sicht dieser Appell wichtiger denn je, auch wenn ich große Zweifel an der Umsetzbarkeit habe.
Ich hoffe, ich irre mich und wir haben mehr als 100 Jahre Zeit, bis das kollektive Gedächtnis versagt und wir in den nächsten großen Krieg marschieren.

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