Politik
AOK fordert neuen Anlauf zu ambulanten Kodierrichtlinien
Freitag, 21. Oktober 2016
Berlin – In der Diskussion um die künftige Gestaltung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) sowie die „Schummel“-Vorwürfe der Kassen bei Kodierungen von ärztlichen Diagnosen hat der AOK-Bundesverband nun eigene Vorschläge zur Weiterentwicklung vorgelegt.
Dabei geht es aus Sicht von Martin Litsch, Vorsitzender des AOK-Bundesverbandes, darum, beim Morbi-RSA künftig die Dokumentation von Krankheiten besser abzubilden. Neben der Aufhebung der 80 Krankheiten – für die die Kassen derzeit mehr aus dem Gesundheitsfonds zugewiesen bekommen, wenn sie Patienten mit diesen Diagnosen versichern – fordert die AOK als „ad-hoc-Maßnahme“ die bundesweite Einführung der Kodierrichtlinien.
Diese waren bereits im Jahr 2011 in der Ärzteschaft heftig diskutiert worden. Im Zuge des Versorgungsstrukturgesetzes vom damaligen FDP-Gesundheitsminister Philipp Rösler sollten niedergelassene Ärzte zur Kodierung verpflichtet werden. Nach breitem Protest einigten sich Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und GKV-Spitzenverband auf eine Aussetzung der Kodierrichtlinien. „Die Kodierqualität ist derzeit schlecht entwickelt. Diese Ergänzung der Datengrundlagen ist seit Langem überfällig und zwingend notwendig“, erklärte Litsch vor Journalisten in Berlin. Beide sofortigen Maßnahmen sollen aus der Sicht von Litsch zur Befriedung des Streits sowie zu einer „Versachlichung der Debatte“ um die aktuellen Auswirkungen des Morbi-RSA führen.
Vor rund einer Woche hatte der Chef der Techniker Krankenkasse (TK) in einem Interview erklärt, dass jede Kasse inzwischen bei Kodierungen „schummeln“ würde, um über die Runden zu kommen. Speziell beklagte er auch das AOK-System, deren elf Kassen von den Landes- und nicht den Bundesbehörden geprüft werden. Der AOK-Bundesverbandsvorsitzende Litsch wies das zurück und zeigte sich verärgert, dass „so das Vertrauen in den RSA untergraben wird“.
AOK: 80 Krankheiten als Vorgabe abschaffen
Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Jens Martin Hoyer, erklärte, dass die Auswahl der 80 Krankheiten die Zielgenauigkeit des Morbi-RSA „unnötigerweise beschränkt“. Würde diese Beschränkung aufgehoben werden, entfalle auch der analytische und administrative Aufwand, den das Bundesversicherungsamt (BVA) jährlich bei der Prüfung und Auswahl habe. „Zugleich ist davon auszugehen, dass durch den Wegfall der Begrenzung auf 80 Krankheiten auch die Unterscheidung in vermeintliche und nicht lukrative Diagnosen entfällt“, erklärte Hoyer. Für 2017 hat das BVA beispielswiese festgelegt, dass nach der Diagnose Adipositas keine speziellen Zuweisungen mehr an die Kasse gezahlt werden.
Beide AOK-Vorstände legten in Berlin auch ein 17-seitiges Positionspapier zur „systematischen Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleiches“ vor, das mit allen elf AOKen abgestimmt sei. Darin heißt es, dass neben den beiden „Sofortmaßnahmen“ in der kurzfristigen Reformperspektive die Morbidität und das Einkommen bei Zuweisung für Krankengeld stärker berücksichtigt werden müssten. Ebenso müsste die Zuweisung für Auslandsversicherte weiterentwickelt werden.
Positionspapier vorgelegt
Zusätzlich wollen die AOKen in einer Gesamtuntersuchung des Morbi-RSA auch sozio-ökonomische Faktoren der Regionen einbeziehen lassen. In einer längerfristigen Perspektive hält der AOK-Bundesverband eine Prüfung beim Umgang mit Hochkostenfällen für nötig. Eine Regionalisierung im Morbi-RSA, wie es beispielsweise die Bayerische Landesregierung fordert, sieht der AOK-Bundesverband als nicht sinnvoll an. „Die jüngsten Gutachten zur Frage der Regionalisierung im deutschen RSA belegen eindrucksvoll, dass keine ausreichenden Kenntnisse über die Wirkzusammenhänge und Kausalitäten in Bezug auf regionale Varianzen vorliegen“, heißt es in dem Positionspapier.
Auf den 17 Seiten werden ebenso die Vorschläge der Ersatz-, Betriebs- und Innungskassen kritisiert: So seien die fünf bereits in Auftrag gegebenen Gutachten allesamt „interessensgeleitete Auftragsgutachten und Positionspapiere einzelner Akteure und Akteursgruppen.“ Mit den Vorschlägen werde an vielen Stellen der RSA „völlig undifferenziert als vermeintliche Ursache für Unterschiede in den Deckungsgraden auf Kassen- beziehungsweise Kassenartenebene instrumentalisiert“, heißt es weiter. Ebenso beruhten die bisherigen Vorschläge auf einer unzureichenden Datenbasis. Um von den ordnungspolitischen „Unzulänglichkeiten der Vorschläge“ abzulenken, werde der RSA als Ganzes diskreditiert, heißt es in dem Papier.
Die so kritisierten Kassenarten wehrten sich umgehend mit einer gemeinsamen Pressemitteilung. Dort hieß es: „Die Positionierung der AOK wird als objektiv und sachlich hingestellt, während alle anderen Stimmen als interessengeleitet und solidargefährdend abqualifiziert werden.“ Der konstruktive Dialog, den die AOKen selbst einfordern, würde konterkariert. Mit der „Abqualifizierung“ der Wettbewerber lege die AOK „die Axt an die Solidarität in der GKV“. Weiter heißt es: „Sie setzt vor allem auf den Faktor Zeit, um bestehende Überdeckungen aus dem Gesundheitsfonds möglichst lange als Wettbewerbsvorteil zu konservieren“, schreiben die drei Kassenarten.
Die inhaltlichen Ideen werden ebenso kritisiert. Zwar seien bundesweite Kodierrichtlinien eine notwendige Ergänzung, bekämpften aber nur die Symptome, nicht die Probleme des RSA. Auch ein Ende der 80 Krankheiten würde die Manipulationspotenziale im Morbi-RSA weiter verschärfen.
Einig sind sich die Kassen nur in einem: Es muss so schnell wie möglich eine Gesamtevaluation des Morbi-RSA kommen. Seit Einführung im Jahr 2009 hatte es erst eine Evaluation im Jahr 2011 gegeben. AOK-Chef Litsch plädierte dafür, dass die Evaluation durch den Wissenschaftlichen Beirat des BVA demnächst gestartet werden soll. Dem Beirat gehört unter anderem Jürgen Wasem von der Uni Duisburg-Essen an. Auf Nachfrage erklärte Litsch, dass er eine zügige Gesamtevaluation erwarte, denn auch in der Gesundheitspolitik sei das Thema angekommen. © bee/aerzteblatt.de

Die Qualität von Surrogatmarkern
In dem Augenblick, wo diese Kodierung zweckentfremdet wird, um Gelder zu verschieben, führt dies zu einer Rückkopplung seitens der Kassen auf die Kodierer. Und wie die jüngste Vergangenheit zeigt, ist dieser Störfaktor stärker als alle anderen Störfaktoren zusammengenommen. Diese Rückkopplung ist aus meiner Sicht sogar so stark, dass die Kasssen sich besser andere Surrogatmarker suchen sollten, die weniger störanfällig sind. Die andere (theoretische) Alternative wäre ein kompletter Verzicht der Kassen auf die Kommunikation mit der Ärzteschaft, alles müsste über die KV laufen, alle Anfragen, alle iV-Verträge etc.
Der Morbiditätsausgleich ist bei weitem nicht der einzige derartige Surrogatmarker. Es gibt eine Reihe an freiwilligen Benchmarksystemen: http://www.nrz-hygiene.de/surveillance/kiss/
Ich bin mir ziemlich sicher, dass bei der Frage nach der Qualität im Krankenhaus begehrliche Blicke auf diesen Datenschatz geworfen werden. Aber auch hier droht die gleiche Falle. Wenn diese Daten zweckentfremdet werden, um über Krankenhausstrukturen zu entscheiden, dann fällt umgehend die Qualität dieser Daten ins Bodenlose. Wenn also ein Gesundheitspolitiker darüber nachdenkt, die Verteilung von Geldern an einen Surrogatmarker zu koppeln, dann sollte er sich nicht nur fragen, wie gut dieser Surrogatmarker jetzt ist, sondern auch, wie robust er gegenüber Missbrauch ist. Aus meiner Sicht waren alle diese Probleme vorhersehbar. Die Kopplung des Morbi-RSA an die ICD-Kodierung ist deshalb auch Ausdruck einer handwerklich schlechten Arbeit des Gesetzgebers.

Nur Vereinfachung der Kodierung sichert die Versorgung
Und das für ein Nullsummenspiel in einer absurden Kassenbürokratie, die weltweit einmalig ist. Um den Ärztenachwuchs zu halten, brauchen wir wesentliche Vereinfachungen (!) der Kodierung - z.B. die ICPC. In der allgemeinmedizinischen Forschung ist dies der Standard - die ICD-10 bildet die Versorgungsrealität viel zu schlecht ab und erzeugt durch Doppeldeutigkeiten zu viele Fehlkodierungen.

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