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Ärzteschaft

Onkologen: Nutzenbewertung darf Therapiefreiheit nicht einschränken

Mittwoch, 26. Oktober 2016

Berlin – Der Vorsitzende des Berufsverbandes Niedergelassener Hämatologen und On­ko­logen (BNHO), Stephan Schmitz, hat kritisiert, dass die frühe Nutzenbewertung zuneh­mend dafür genutzt werde, die Therapiefreiheit des Arztes einzuschränken.

„Die Ent­schei­dung für den Einsatz eines Medikaments trifft ausschließlich der behan­deln­de Arzt. Basis seiner Entscheidung sind unter anderem das Alter des Patienten, Ko­morbiditäten, ein geriatrisches Assessment und die Organfunktionen. Das ist sehr viel mehr als man mit der frühen Nutzenbewertung abbilden kann“, sagte Schmitz heute auf der Handelsblatt Jahrestagung „Health 2016“ in Berlin.

Nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) seit 2011, ob neu auf den Markt gekommene Arzneimittel ei­nen Zusatznutzen im Vergleich zu einer zuvor festgelegten Standardtherapie haben. Im Anschluss verhandeln der GKV-Spitzenverband und der Hersteller einen Preis, den die Krankenkassen künftig für das Medikament bezahlen. Mit dem AMNOG-Verfahren wollte man die Preise neuer Arzneimittel in den Griff bekommen, sagte Schmitz. Die frühe Nutzen­bewertung sei jedoch ungeeignet, den Stand des medizinischen Wissens abzu­bilden. Denn dafür seien weder der G-BA noch der Staat zuständig, sondern Ärzte und Fachgesellschaften.

Durch den ökonomischen Druck, der auf den Krankenkassen laste, versuchten diese zu­nehmend, die Patientensteuerung von den Ärzten wegzulenken, unter anderem durch Arz­neimittelvereinbarungen, die die Kassen auf Landesebene mit den Kassenärztlichen Vereinigungen schlössen, kritisierte der Onkologe. Dadurch würden Ärzte zum Beispiel angehalten, neue Arzneimittel nur in den Anwendungsgebieten zu verordnen, für die sie einen Zusatznutzen vom G-BA erhalten hätten. Das aber sei ein Eingriff in die Therapie­freiheit des Arztes.

„Auch wenn ein Zusatznutzen nicht belegt wurde, kann es sinnvoll sein, einen Patienten mit dem entsprechenden Medikament zu behandeln“, betonte Schmitz. „Wir Onkologen setzen Sequenzen von Arzneimitteln ein. Wenn eines nicht wirkt, nehmen wir ein ande­res, das dann möglicherweise wirkt.“ Auf diese Weise sei es möglich, das Leben von Krebspatienten mit Metastasen um viele Jahre zu verlängern.

„Diese Medikamente, die wir dafür verwenden, haben aber alle keinen Zusatznutzen er­hal­ten“, so Schmitz. Durch die Arzneimittelvereinbarungen werde suggeriert, dass zuge­lassene Arzneimittel nur bei einem Zusatznutzen verordnet werden könnten. Das sei falsch. Bei Ärzten würden dadurch aber Regressängste geschürt. Aus Sicht der Onkolo­gen seien Arzneimittelvereinbarungen schädlich.

© fos/aerzteblatt.de

Kommentare

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Avatar #697854
Dr.Bayerl
am Samstag, 29. Oktober 2016, 08:33

Evidenz ist kein Wunderwort

sondern hat etwas mit Mathematik zu tun.
Also Statistik. Darin steckt SELBSTVERSTÄNDLICH eine Einschränkung. Wenn ich allen 65-järigen einen Herzschrittmacher implantiere, besteht Evidenz für eine Lebensverlängerung.
Evidenz ist dagegen mathematisch um so schwieriger, je kleiner die Zahl der Patienten ist und damit wird AMNOG selbstverständlich eine nicht unbedenkliche Hürde für ALLE Neueinführungen.
Der Vorwurf eine "unerwünschten" Lebensverlängerung ist nun wirklich nichts neues und die Priorität der Lebensqualität ganz sicher kein leeres Schlagwort auch für den Onkologen.
Früher war es immer die böse Apparatemedizin und ganz im im Hintergrund droht nach wie vor die unterlassene Hilfeleistung.
Ich habe von den Betroffenen selbst allerdings persönlich ausschließlich das Gegenteil von "Patientenskepsis" erlebt,
dass sie trotz infauster Prognose weiterleben WOLLTEN und sich auch an illusionäre Strohhalme klammern.
Das ewige Gebiet der "Alternativmedizin" gerne kombiniert mit Ärztebashing lässt grüßen. Die Kritik an der Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit scheint mir dabei eher etwas scheinheilig zu sein.
"Digitalisierung" ist unmenschlich, nicht nur in der Onkologie.
Avatar #115425
Herz1952
am Freitag, 28. Oktober 2016, 17:39

@ Ingrid Mühlhauser

Soweit ich informiert bin, hat leider die evidenzbasierte Medizin den Nachteil, dass sie sich in erster Linie auf den Durchschnitt bezieht.

Die individuellen Werte kommen dabei zu kurz.

Aber ansonsten gebe ich Ihnen durchaus recht. Mein Bruder hat das leider mitgemacht. Chemo bis zuletzt. Ob wirklich dadurch das Leiden besser geworden ist, ist fraglich.

Als ihm der Onkologe sagte, dass "wir" 6 Wochen gewonnen haben, meinte er nur: Sie vielleicht, ich nicht.
Avatar #702827
Ingrid Mühlhauser
am Freitag, 28. Oktober 2016, 09:24

Es geht um Therapieverantwortung und informierte Entscheidungen

Therapiefreiheit wird gerne missverstanden. Ärzte haben eine Therapieverantwortung. Der Nutzen der Behandlung muss für die betroffenen Patienten nachweisbar größer sein als der mögliche Schaden. Selbst dann haben die Patienten nach dem Patientenrechtegesetz ein Anrecht auf eine informierte Entscheidung. Alle Optionen mit Wahrscheinlichkeitsangaben zu Nutzen und Risiken, einschließlich der Möglichkeit von der empfohlenen Behandlung Abstand zu nehmen, müssen in neutraler, verständlicher Form präsentiert werden. Kriterien für die Informationsprozesse wurden vom Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin in der Guten Praxis Gesundheitsinformaitonen (GPGI) formuliert.
Überleben und Lebensqualität bei fortgeschrittenen Krebserkrankungen sind oft besser unter palliativer Behandlung als unter Chemotherapie.
Die Patienten wünschen und haben ein Recht auf Evidenzbasierte medizinische Verfahren.
Avatar #115425
Herz1952
am Donnerstag, 27. Oktober 2016, 17:32

Beim G-BA haben zu viele Medikaemente keinen Zusatznutzen, obwohl dieser vorhanden ist.

Also, das was der G-BA beschließ ist manchmal schlicht kriminell. Manche Medikamente haben sehr wohl einen Zusatznutzen, sogar laut den Leitlinien des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Diese werden vom G-BA einfach geleugnet.

Selbst wenn nach dem Beschluss Zweifel auftreten, sorgen die Vertreter des Spitzenverbandes Bund der GKV dafür, dass dies (wegen des hohen Preises für neue Medikamente) nicht geschieht.

Ob man bei Krebs noch einmal Chemo machen sollte, nur wegen ein "paar Wochen", das ist eine andere Sache. Davon kommt man jetzt auch ab, wenn es eine schmerzlindernde Medikation auch täte. Aber manchmal soll das Wachstum der Tumore verhindert werden. Sinnvoll kann eine Chemo sein, dass die Schmerzen nicht noch größer werden.

Deshalb Onkologen, wehret Euch bitte.

Ich muss leider immer wieder betonen, dass es noch den § 31 Abs. 1, Satz 4 gibt, nachdem der Arzt die Medikation auf "Kasse" bestimmen darf. Davon habe ich schon gebrauch gemacht und muss es wahrscheinlich in Kürze wieder machen. Aber das weis kein Arzt anscheinend. In Zukunft soll auch noch diese "Betrugssoftware" von der Nutzenbewertung in den Praxen installiert werden.

Der G-BA - zumindest der Spibu - sollte sich ganz raushalten, weil er von Medizin keinerlei Ahnung hat. Aber wie soll man das verhindern? Die Krankenkassen beeinflussen sogar die medizinische Behandlung der Patienten. Leider habe ich kürzlich erfahren, dass sogar die KV Bayern am Telefon meinen Arzt falsch beraten hat. Er sollte 2 Privatrezepte ausstellen und nur jedes 3. Rezept auf Kosten der Kasse. In der Homepage der KVB stand jedoch unter dem Link Medikamente, dass dieses von der Krankenkasse erstattet wird.
Avatar #79783
Practicus
am Donnerstag, 27. Oktober 2016, 15:55

Eine unzureichende Rechtfertigung

dafür, zugunsten einer minimalen Überlebensverlängerung Gelder zu verbraten, die bei anderen Versicherten eine Lebensverlängerung bewirken könnten. Wieviele Tausende Menschen zugunsten einer fragwürdigen Lebensverlängerung von Krebskranken wegen Einsparungen bei ihrer Behandlung früher sterben müssen, hat noch niemand ausgerechnet... Schnöde Erpressung ist das. Nur weil Onkologen der Mut fehlt, zuzugeben, dass sie oft machtlos sind.
Avatar #677446
MarHome48IBMneu
am Donnerstag, 27. Oktober 2016, 09:54

Therapiefreiheit und Aufrichtigkeit

Wer könnte im Ernst gegen Therapiefreiheit sein? Als Patient erwarte ich freilich ehrliche Informationen darüber, was über die mir empfohlenen Methoden der Behandlung bekannt ist. Wenn man mir dann sagt, dass es aus klinischen Studien für eine Chemotherapie keine Belege für einen Zusatznutzen gibt, würde ich sehr hellhörig werden, wenn ein Onkologe sie mir trotzdem empfiehlt. Der Verweis auf die individuelle Indikationsstellung klingt gut, hat aber in der Weise, wie sie der Berufsverbandsvorsitze offenbar vornimmt, nichts mit guter Medizin zu tun. Dann auch noch von jahrelanger Lebensverlängerung zu sprechen, ist mehr als kühn. Es ist sehr zu begrüßen, dass die wissenschaftliche Fachgesellschaft der Hämatologen und Onkologen sich der chosing-wisely-Initiative angeschlossen haben. Dass das Ärztblatt die Aussagen von Herrn Schmitz abdruckt, ist einerseits journalistische Pflicht. Unkommentiert freilich sind diese Aussagen gefährlich.

Prof. Dr. med. Norbert Schmacke
Institut für Public Health und Pflegeforschung
Universität Bremen (ipp.uni-bremen.de)
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