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Ärzteschaft

Marburger Bund warnt vor Wartelistenmedizin

Donnerstag, 3. November 2016

Rudolf-Henke /dpa

Berlin – Vor der Schließung Hunderter Krankenhäuser, wie die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina im Oktober in einem Thesenpapier gefordert hatte, warnte heute der 1. Vorsitzende des Marburger Bundes (MB), Rudolf Henke, in Berlin.

Die Leopoldina hatte argumentiert, dass die deutsche Krankenhauslandschaft dringend einer Strukturreform bedürfe, an deren Ende statt der derzeit knapp 2.000 Kranken­häu­ser nur noch 330 Zentralkrankenhäuser stehen könnten. Ein derartiges „Kettensägen­massaker“ bedeute das Ende der freien Krankenhauswahl für die Patienten und den Beginn einer Wartelistenmedizin, erklärte Henke dazu im Vorfeld der Hauptversammlung der Ärztegewerkschaft, die am 4. und 5. November in Berlin stattfinden wird.

In keinem anderen Versorgungsbereich habe es in den vergangenen Jahren mehr Ratio­nalisierung und staatlich verfügten Kapazitätsabbau gegeben als im Krankenhaus­sektor, sagte der MB-Vorsitzende. In den vergangenen 20 Jahren seien rund 110.000 Kranken­hausbetten abgebaut worden, gleichzeitig sei die Zahl der stationär behandelten Patien­ten von 16 Millionen im Jahr 1995 auf 19 Millionen im Jahr 2015 gestiegen.

Das sei eine beispiellose Effizienzsteigerung, die für das Krankenhauspersonal häufig Mehrarbeit und eine hohe Arbeitsverdichtung zur Folge gehabt habe. „Wer vor diesem Hintergrund Hunderte von Krankenhäusern für überflüssig erklärt, redet letztlich einer har­ten Rationierung und Unterversorgung das Wort“, erklärte Henke. Die Menschen in Deutschland wollten aber keine Wartelistenmedizin und keine langen Wege bis zur nächs­ten Klinik, wie sie in anderen Ländern üblich seien.

„Völlig illusionäre Fantasiewelt“
Die Leopoldina hatte für ihre Krankenhausstrukturreform mit dem Beispiel Dänemark ge­worben. Dort hatte die Regierung für die Restrukturierung des Krankenhaussektors rund 1.000 Euro pro Kopf der Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Übertragen auf Deutsch­land wären das 80 Milliarden Euro, so Henke. Angesichts der heute von den Ländern pro Jahr bereitgestellten Investitionsmittel von 2,7 Milliarden Euro lebten die Wissenschaftler der Leopoldina offenbar in einer „völlig illusionären Fantasiewelt“, kritisierte der MB-Vor­sitz­ende.

„Statt derartiger Fantasien fordern wir eine gesetzlich verankerte Mindestförderung für den Substanzerhalt und die Investition in bedarfsgerechte Strukturen“, so Henke. Der von der Selbstverwaltung kalkulierte Investitionsbedarf liege bei jährlich mindestens sechs bis sieben Milliarden Euro. Von einer ausreichenden Finanzierung könne aber nicht die Rede sein. Noch immer würden Investitionslücken der Länder aus den Kran­kenhausbudgets quersubventioniert. Diese Mittel fehlten aber an anderer Stelle und gingen zulasten der Personalausstattung.

„Wir müssen uns stärker um die Integration ausländischer Kollegen kümmern“
Neben der finanziellen Situation der Krankenhäuser kündigte Henke weitere Themen für die Hauptversammlung an, darunter Veränderungen in der ärztlichen Arbeitswelt. So ar­beiten Henke zufolge inzwischen rund 37.800 ausländische Kollegen in deutschen Kran­kenhäusern.

Die stärksten Zuwächse verzeichne man bei Ärzten aus Syrien, Serbien und Rumänien. „Wir müssen uns stärker um Fragen der Integration kümmern“, sagte Henke. Erfor­derlich sei ein verlässliches Anerkennungsverfahren für ausländische Abschlüsse sowie eine bun­desweit einheitliche Sprachprüfung. Noch immer müssten ausländische Ärzte durch einen „Unzuständigkeitsdschungel“ irren, kritisierte der 2. Vorsitzende des MB, Andreas Botzlar, und verwies zugleich auf die Beratungs- und Seminarangebote des MB für die ausländischen Kollegen.

Der MB hat sich auch die Interessenvertretung der inzwischen rund 30.000 angestellten Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Bereich auf die Fahne geschrieben und ist bei den diesjährigen Wahlen zu den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) mit eigenen Listen angetreten. „Die angestellten Ärzte müssen eine Stimme in der Vertreterversammlung ha­ben“, sagte MB-Hauptgeschäftsführer Armin Ehl. Bei den KV-Wahlen habe man zwar noch keine übermäßigen Erfolge erzielt, aber es sei ein erster Schritt.

Die MB-Hauptversammlung wählt einen neuen Vorstand
Wahlen werden am Samstag auch bei der MB-Hauptversammlung auf der Tages­ordnung stehen. Der Vorstand wird neu gewählt und von bisher sieben auf neun Mitglieder erwei­tert. Nachdem die Hauptversammlung im Mai in Hamburg eine Geschlechterquote für den Bundesvorstand beschlossen hatte, müssen diesem künftig mindestens drei Frauen und drei Männer angehören. Zurzeit stehen dem Gremium Rudolf Henke und Andreas Botzlar als 1. und 2. Vorsitzender vor, Beisitzer sind Andreas Scholz, Christoph Emminger, Sa­bine Ermer, Hans-Albert Gehle und Frank Joachim Reuther. Henke zufolge stellen sich alle bis auf Emminger zur Wiederwahl.

© HK/aerzteblatt.de

Kommentare

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Avatar #106067
dr.med.thomas.g.schaetzler
am Donnerstag, 3. November 2016, 23:10

"Unter den Talaren, Muff von tausend Jahren"?

Die Leopoldina in Halle a. d. Saale ist eine 1652 gegründete Wissenschaftsakademie. Sie ist "der freien Wissenschaft zum Wohle der Menschen und der Gestaltung der Zukunft verpflichtet. Mit ihren rund 1.500 Mitgliedern vereint die Leopoldina hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und zahlreichen weiteren Ländern."

8-Thesenpapier:
Was sich da allerdings die altehrwürdig-verstaubte "Leopoldina" mit einem aktuellen 8-Thesen-Papier und dem anspruchsvollen Titel "Nationale Empfehlungen - Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem (2016)" geleistet hat, ist dilettantisch und Medizin-bildungsfern: "Die Medizin hat die Aufgabe, Krankheiten – soweit möglich – zu heilen, zu lindern und ihnen vorzubeugen. Der Patient muss sich darauf verlassen können, dass Ärzte und das medizinische Fachpersonal nur entsprechend dieser Aufgabe handeln", heißt es dort: www.leopoldina.org/de/publikationen/detailansicht/publication/zum-verhaeltnis-von-medizin-und-oekonomie-im-deutschen-gesundheitssystem-2016/

Leben retten kommt nicht vor:
Die Idee, dass Ärztinnen und Ärzte in Deutschland häufig zunächst ohne Ansehen der Person erstmal Leben retten und sichern müssen, bevor es zu irgendeinem Heilungsansatz kommen die selbst ernannten "Gesundheits- und Ökonomie-Experten" der Leopoldina nicht. Stattdessen "vergisst" die Leopoldina völlig, dass das ärztliche Motto "RETTEN, HEILEN, LINDERN, SCHÜTZEN" lauten muss. Vergleichbar mit dem globalen Leitmotiv aller Feuerwehren: "Retten, Löschen, Bergen, Schützen" www.feuerwehrverband.de/fileadmin/Inhalt/SERVICE/Allgemein/DFV-Informationen_Signet_DJF.pdf

Falsche Arbeitsplatzbeschreibung:
Die Leopoldina will uns Ärztinnen und Ärzten in Klinik und Praxis allen Ernstes eine Arbeitsplatzbeschreibung mit "Krankheiten – soweit möglich – zu heilen, zu lindern und ihnen vorzubeugen" andienen, mit der die eminent wichtige und klinisch besonders relevante Rettungs-, Notfall- und Intensivmedizin schlichtweg unterschlagen werden.

Populistische Vergleiche:
Die Vergleiche sind populistisch gewählt: Man nehme staatliche Einheits-Krankenversicherungs-Systeme mit universeller Datenerfassung und "gläsernen" Bürgerinnen und Bürgern, deren Schritte in Richtung Gesundheit oder Krankheit gnadenlos erfasst, therapiert, korrigiert und ökonomisiert werden. "Vergleicht man die Gesundheits-Outcomes in Deutschland mit denen in Schweden oder Dänemark – Länder, in denen der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP und die Bevölkerungsstruktur (??) ähnlich sind –, so wird deutlich: Die Qualität der Versorgung und die Effizienzkennzahlen sind in diesen Ländern in Teilen besser."

Die 8 Thesen:

"1: Ökonomisches Handeln im Gesundheitssystem ist geboten – aber ausschließlich zum Wohl des einzelnen Patenten und der Gesellschaft

2: Mehr Geld macht ein System nicht automatsch leistungsfähiger

3: Vorhandene Überkapazitäten dürfen nicht dazu führen, dass außermedizinische Überlegungen die Indikatonsstellungbeeinflussen

4: Eine Weiterentwicklung des DRG-Systems allein reicht nicht aus, um die ökonomischen Fehlentwicklungen zu beheben

5: Qualifziertes medizinisches Personal ist derzeit im Grunde ausreichend vorhanden, aber auf zu viele Häuser verteilt

6: Eine angemessene Analyse des Gesundheitssystems braucht Transparenz und den Zugang zu Informationen

7: Wetbewerb hat Grenzen

8: Die Gesundheitsversorgung braucht klare und verlässliche politsche Rahmensetzungen, innerhalb derer ein Qualitätswettbewerb stattfinden kann. Es braucht zusätzlich politschen Mut, die notwendigen Strukturveränderungen anzugehen."

Umdeutung von Krankheit in Gesundheit:
Doch diese 8-Thesen führen neben der Negierung von "Krankheiten" und ihre Umdeutung in "Gesundheiten" zu nichts anderem, als dem Primat der Ökonomie über die Medizin. Medizin und Heilkunde als ärztliche Professionen verkommen zu seelenlos-reinen Reparatur-, Gesundheits- und Anpassungs-Leistungen.

Medizin als durchökonomisierte Administration?
Die "Autoren der Thesen" sind ebenso überwiegend Klinik-fern wie Administrations-affin: "Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, Stiftung Charité, Sprecher der WK Gesundheit, Lehrstuhl für Öfentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie, Ruhr-Universität Bochum, Medical-Valley, Erlangen-Nürnberg, Klinik für Infektologie und Pneumologie, Charité Universitätsmedizin Berlin, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Medizinische Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen"

Mein Gegenvorschlag:
Jeder Autor der Leopoldina-Thesen verpflichtet sich dazu, mindestens 25 Folgen von "Emergency Room" (ER) des US-amerikanischen Schriftstellers und Arztes Michael Crichton mit Dr. Douglas "Doug" Ross (George Clooney) und Anthony Edwards als Dr. Mark Greene anzuschauen, oder die 3 Bücher "Mount Misery", "The House of God" und "Doctor Fine" von Samuel Shem zu exzerpieren. Aber bei der Leopoldina herrscht wohl nach wie vor das Motto: "Unter den Talaren, Muff von 1.000 Jahren"?

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund
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