Politik
„Wir holen Onlinesüchtige dort ab, wo die Sucht entstanden ist“
Dienstag, 8. November 2016
Berlin – Die Zahl der internetabhängigen Jugendlichen in Deutschland hat sich in den vergangenen vier Jahren fast verdoppelt. Mittlerweile gälten 5,8 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen als onlinesüchtig, berichtete Die Welt unter Berufung auf eine Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. In der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen lag der Anteil der Süchtigen bei 2,8 Prozent und damit nur leicht über den Ergebnissen der vorangegangenen Untersuchung von 2011. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), deren morgige Jahrestagung sich in Berlin der Internetsucht widmet, sieht in der Internetabhängigkeit ein „Massenphänomen“. Deshalb müssten die Vorsorge gestärkt sowie spezialisierte Behandlungs- und Therapieangebote ausgebaut werden, sagte sie.
Bert Theodor te Wildt, Oberarzt an der Ambulanz der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum, hat im September mit Kollegen die Onlinesuchtambulanz OASIS ins Netz gestellt. Te Wildt behandelt seit vielen Jahren Internetabhängige. Er hat zum Thema Internetabhängigkeit habilitiert und ist Mitbegründer des Fachverbands Medienabhängigkeit. 2015 erschien sein Buch „Digital Junkies, Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder“.
5 Fragen an Bert Theodor te Wildt, Oberarzt an der Ambulanz der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum
DÄ: Sie empfehlen sich täglich analoge Zeiträume zu nehmen, ja analoge Selbstfürsorge zu betreiben. Wie sieht die konkret aus?
Bert te Wildt: Aus ärztlich-therapeutischer Sicht stellt sich für mich die Frage, was gesundheitsförderlich ist. In diesem Sinne ist klar, dass es Zeiten und Räume geben muss, in denen Bildschirmmedien ausgeschaltet sind, damit wir nicht ständig gestört werden. Wenn ein Gerät ständig piepst und irgendetwas von uns will, schaden wir uns, weil wir die Menschen um uns herum aus den Augen verlieren.
Darüber hinaus wissen wir inzwischen sehr gut, dass der Schlaf beeinträchtigt wird, wenn wir kurz vor dem Schlafengehen noch einmal auf ein Smartphone schauen. Also sollten digitale Geräte am besten eine Stunde vor dem Schlafengehen aus bleiben. Kinder und Jugendlich leiden heute unter Schlafmangel, nicht nur weil sie zu lange mit Onlinemedien beschäftigt sind, sondern auch weil es durch die Lichtexposition durch Beeinträchtigungen des Melatoninstoffwechsel zu einer Verschlechterung des Schlafverhaltens kommt.
Wir müssen also ganz konkret gegensteuern, auch beruflich. Ich versuche zum Beispiel die erste Stunde des Arbeitstages analog zu gestalten, indem ich Arztbriefe korrigiere, um nicht gleich in der E-Mail-Flut zu versinken. Ich muss mir immer wieder bewusst vornehmen, alles was mich rausreißen kann auszuschalten, um einen Brief oder einen wissenschaftlichen Artikel zu schreiben. Maßvolle Internetnutzung ist auch eine Frage der Professionalität.
DÄ: Wie viel Internet ist gesund oder umkehrt, wann bezeichnen Sie jemanden als internetabhängig?
te Wildt: Man geht international inzwischen davon aus, dass die reine Nutzungszeit nicht das entscheidende ist, wenn es um die Diagnosestellung einer Internetabhängigkeit geht. Die American Psychiatric Association hat diagnostische Kriterien festgelegt für die Internet Gaming Disorder. Die Online-Computerspielsucht ist die häufigste Internetabhängigkeit und die am besten beforschte. Aufgenommen sind die Kriterien im DSM-V, als sogenannte Forschungsdiagnose in den Anhang. Es gibt entsprechende deutsche Formulierungen für Internetabhängigkeit von Rumpf und Kollegen, die zurzeit der Maßstab sind und die ich sehr hilfreich finde.
Diese betreffen den Kontrollverlust, wenn man viel länger online ist als man sein will oder das Auftreten von Entzugssymptomen, wenn man nicht online sein kann, beispielsweise wenn der Server zusammenbricht. Weitere Kriterien zielen auf die Folgen des Verhaltens ab, also die Vernachlässigung des eigenen Körpers, die Beeinträchtigung der sozialen Beziehungen oder den Umgang mit Leistung. Internetabhängige fliegen häufig aus Schule, Studium oder Beruf raus, weil die Internetnutzung so viel Zeit einnimmt. Wir haben Patienten die täglich bis zu 10, 12 oder sogar 16 Stunden im Internet unterwegs sind – und das über Monate und Jahre hinweg. Die leben quasi online.
Aber es gibt nicht nur die Computerspielsucht, die hauptsächlich junge Männer betrifft, sondern auch andere Verhaltenssüchte, wie die von sozialen Netzwerken. Davon sind zumeist junge Frauen betroffen, die sich aber selten in Ambulanzen oder Beratungsstellen vorstellen. Das liegt vermutlich daran, dass diese Abhängigkeit den Alltag nicht so stark beeinträchtigt, auch die sozialen Kontakte werden nicht so stark geschädigt, wie bei der Spielsucht. Weiter gibt es Varianten, die analoge Vorläufer haben, wie die Cybersexsucht, wo es um Pornographie, Sex-Chats und Sex-Dating geht. Es gibt die Online-Kaufsucht und die Online-Glückspielsucht. Diese Süchte weisen ganz neue Charakteristika auf und haben auch eine neue Dynamik, die viel mit der ständigen Verfügbarkeit durch die mobilen Endgeräte zu tun hat.
DÄ: Auf der Webseite der neuen Onlinesuchtambulanz OASIS kann man einen Selbsttest machen und wird dann gegebenenfalls zu zwei Online-Sprechstunden eingeladen. Wollen sie Onlinesucht online behandeln?
te Wildt: Nein, es geht um Diagnostik und Therapieanbahnung. Wir machen genau das, was wir in der Ambulanz hier am Klinikum auch machen. Nach dem Selbsttest werden Betroffene eingeladen an einen 50-minütigen Webcam-basierten Online-Sprechstundentermin wahrzunehmen, der innerhalb von drei Wochen stattfindet. In diesen 50 Minuten machen wir eine ausführliche Diagnostik in Bezug auf die Internetabhängigkeit und dann noch ein diagnostisches klinisches Interview um zu schauen, ob andere psychische Erkrankungen, die dabei eine Rolle spielen, vorliegen.
Bis zum zweiten Termin schauen wir dann, wo vor Ort passgenau das richtige Angebot für den Betroffen vorhanden ist. Wir holen Onlinesüchtige dort ab, wo die Sucht entstanden ist und bauen ihnen eine Brücke in ein analoges Beratungs- oder Behandlungssetting. Das ist an Suchtberatungsstellen und Spezialambulanzen in ganz Deutschland vorhanden. Wir arbeiten hier in Kooperation mit dem Fachverband Medienabhängigkeit, das beste Netzwerk in diesem Bereich. Bei diesem zweiten Termin führen wir auch ein motivationales Interview durch, um die Betroffenen zu motivieren, sich wirklich die Hilfe zu suchen, die wir ihnen vermittelt haben. Das soll auch möglichst zurückgemeldet werden, weil das ganze Projekt auch beforscht wird.
DÄ: Wie sieht eine Therapie der Internetsucht nach state-of-the-art aus?
te Wildt: Wir spezifizieren zuerst, wovon genau die Betroffenen abhängig sind. Dann empfehlen wir eine komplette Abstinenz von dem Bereich im Internet, der zu der Abhängigkeit geführt hat. Viele sagen am Anfang der Behandlung, und das akzeptieren wir auch als Therapieziel, dass sie eine kontrollierte Nutzung lernen wollen. Sie stellen dann aber zumeist fest, dass das sehr schwierig ist. Wenn sie dann aber versuchen eine Woche lang beispielsweise auf Computerspiele zu verzichten, merken sie in der Regel, dass das einfacher ist als im Alltag permanent gegen das bei der kontrollierten Nutzung stets präsente Suchtmittel anzukämpfen. Sie folgen dann meist dem Rat, eine komplette Abstinenz anzustreben.
Bei der Therapie geht es aber nicht nur darum, was die Betroffenen nicht mehr tun sollen, sondern auch darum, was sie mit der gewonnenen Zeit anfangen können. Das ist ein großes Problem, denn viele sind vereinsamt, verunsichert, depressiv, haben den Anschluss an soziale Kontakte, an Schule, Ausbildung und Beruf verloren. Wenn wir als Therapeuten auch mit Unterstützung von Sozialarbeitern und Angehörigen nicht an der Eroberung neuer realer Spielräume arbeiten würden, kann die Therapie verlorene Liebesmüh sein.
Die Betroffenen brauchen eine Alternative, bei der sie sich gewertschätzt fühlen. Es gibt bisher nur sehr wenige Studien zur Wirksamkeit, aber die meisten Ansätze sind kognitiv-behavioral und sollen eine Veränderung des Verhaltens bewirken, wie bei stoffgebundenen Süchten auch. Es können aber auch tiefenpsychologisch fundierte Verfahren zur Anwendung kommen, insbesondere, wenn es längerfristig um Begleiterkrankungen wie Depression oder soziale Ängste geht, die viel weiter zurückreichen, als die Internetabhängigkeit selbst.
DÄ: Sind das die häufigsten Begleiterkrankungen?
te Wildt: Übersichtsarbeiten zeigen, dass die häufigsten Begleiterkrankungen der Internetabhängigkeit Depressionen, Angsterkrankungen und ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) sind. ADHS spielt gerade bei der Computerspielsucht eine große Rolle. Das Asperger-Syndrom stellt vermutlich auch eine Prädisposition für Internetabhängigkeit dar.
Wir haben gerade eine Studie gemacht, die noch nicht veröffentlicht ist, bei der sich andeutet, dass Menschen mit einer depressiven Persönlichkeitsstörung und solche mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung eher gefährdet sind, eine solche Sucht zu entwickeln. Ein wenig umstritten ist noch, ob stoffgebundene Süchte auch häufiger bei Internetabhängigen auftreten. Bei ADHS-Patienten beobachten wir zumindest, dass stoffgebundene Abhängigkeitserkrankungen und andere Verhaltenssüchte häufiger begleitend auftreten.
Die häufigsten komorbiden Suchterkrankungen sind die von Alkohol, Tabak und Cannabis. Mit Sorge betrachten wir darüber hinaus, dass exzessive Spieler sich nicht nur mit Koffein, sondern auch mit anderen aufmerksamkeitssteigernden Mitteln, wie zum Beispiel Amphetaminen, dopen, insbesondere um noch erfolgreicher in den Online-Spielen zu sein. Aber dazu gibt es noch keine wissenschaftlichen Belege. © pb/aerzteblatt.de

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