NewsÄrzteschaft„Niemand wird zur Verfügungsmasse fremder Entscheidungen“
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Ärzteschaft

„Niemand wird zur Verfügungsmasse fremder Entscheidungen“

Freitag, 11. November 2016

Berlin – In Deutschland ist künftig die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen in engen Grenzen erlaubt, auch wenn sie diesen nicht direkt nützt, sondern nur Menschen davon profitieren, die an derselben Krankheit leiden. Voraussetzung ist, dass die Probanden zu einer Zeit, als sie noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren, nach ärztlicher Aufklärung eine entsprechende Verfügung verfasst haben.

Der im Bundestag quer durch die Fraktionen umstrittene Passus, der auf einen fraktionsübergreifenden Änderungsantrag zurückgeht, ist Teil des Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, dem der Bundestag am 11. November in 3. Lesung endgültig zustimmte. Das Gesetz passt deutsches Recht an die Vorgaben der EU-Verordnung über klinische Prüfungen (Nr. 536/2014) an. Einer der Befürworter der Neuregelung und Unterstützer des entsprechenden Änderungsantrags ist Rudolf Henke, Mitglied des Deutschen Bundestages und Präsident der Ärztekammer Nordrhein.

5 Fragen an Rudolf Henke
: Warum ist es wichtig, dass die gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen in engen Grenzen erlaubt wird? Bislang galt, dass diese Probandengruppe nur dann in Forschungsvorhaben eingeschlossen werden darf, wenn sie einen individuellen Nutzen davon hat.
Henke: In Deutschland bleiben klinische Studien ohne informiertes Einverständnis der Betroffenen auch in Zukunft untersagt. Niemand darf dazu gezwungen werden, sich für klinische Studien zur Verfügung zu stellen. Für Minderjährige entscheiden wie bisher die gesetzlichen Vertreter. All das ist und bleibt wesentliche Grundlage dessen, was der Deutsche Bundestag in dieser Woche nach einer sowohl öffentlich als auch parlamen­tarisch außerordentlich intensiven Debatte über den Stellenwert des Selbstbe­stimmungs­rechts zur Teilnahme an Forschung neu entschieden hat.

Wir sorgen dafür, dass die Selbstbestimmung des Einzelnen in Zukunft besser zum Tragen kommen kann als bisher, denn das informierte Einverständnis wird auch für den Fall wirksam, dass der Betroffene selbst von einer Studie nicht oder nicht unmittelbar profitiert.

Die Grenzen zwischen selbstnütziger und gruppennütziger Forschung sind ohnehin fließend. Bei vergleichenden Arzneimittelstudien kommt der therapeutische Fortschritt ja auch nur einem Teil der Probanden zugute und das auch nur dann, wenn es tatsächlich einen Fortschritt gibt. Wer selbstnütziger Forschung zustimmt, muss immer wissen, dass er unter Umständen gar nicht in den Genuss des Nutzens kommt, der angestrebt wird.

Wenn es erlaubt ist, darüber eine Vorabverfügung zu treffen, warum dann nicht auch für den Fall dessen, was wir als gruppennützige Forschung bezeichnen. Mit dem auch von mir eingebrachten Änderungsantrag haben wir streng darauf geachtet, dass eine solche schriftliche Vorabverfügung nur bei klarem Verstand und nach einem ausführlichen ärztlichen Aufklärungsgespräch, das über den Nutzen und die Risiken von klinischen Studien informiert, dokumentiert in einer eigenen Probandenverfügung, zulässig ist.

DÄ: Die öffentliche Diskussion rankte sich stets um Demenzkranke. Welche Patientengruppen könnten noch von den erweiterten Forschungsmöglichkeiten profitieren, welche neuen Forschungsansätze würden dadurch ermöglicht?
Henke: Natürlich ist Demenz das Thema, das jeder aus seinem Freundes- oder Angehörigenkreis persönlich kennt. Es geht aber nicht ausschließlich um Demenz­kranke, die ihre Einwilligungsfähigkeit verlieren können, sondern auch um virale Infektionen wie die Tollwut oder die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, um die Differenzierung zwischen Locked-in-Syndrom und anderen Formen des Wachkomas, um Krankheits­verläufe bei Schlaganfällen oder bakteriellen Enzephalitiden.

Man darf auch nicht vergessen, dass reine Beobachtungsstudien, bei denen Krankheitsverläufe verfolgt werden oder der Verlauf von Biomarkern analysiert wird, von den Ethikkommissionen immer anhand der gleichen Regeln geprüft werden, wie sie in den Arzneimittelstudien gelten.

DÄ: Die Kritiker der Neuregelung haben Ihnen vorgeworfen, mit der Lockerung des Forschungsverbots Missbrauch Tür und Tor zu öffnen und Menschen zu Versuchs­kaninchen zu machen. Was entgegnen Sie denen?
Henke: Möglicher Missbrauch wird durch eine Vielzahl öffentlich-rechtlicher Anforderungen an die klinische Forschung am Menschen verhindert. Auch im Fall eines informierten Einverständnisses auf dem Weg einer Vorabverfügung bleibt es wie sonst auch bei ganz bestimmten Voraussetzungen und sehr strengen Auflagen. Mir war besonders wichtig, dass dazu auch ein ausführliches Aufklärungsgespräch mit einem Arzt gehört, das über den Nutzen und die Risiken über klinische Studien informiert.

Die Teilnahme an einer solchen Studie darf nur medizinische Maßnahmen mit einem minimalem Risiko und einer minimalen Belastung auslösen. Weiterhin gelten auch die Regelungen für die Genehmigungen für klinische Studien, die im Vergleich mit den europäischen Nachbarn die strengsten in Europa sind.

Die zuständige Bundesoberbehörde muss die Stellungnahme der Ethikkommission in deren Zuständigkeitsbereich maßgeblich berücksichtigen. Die Ethikkommission hat auch die Möglichkeit, in ihrer Stellungnahme für eine Zustimmung, Zustimmung unter Auflagen oder Ablehnung der Vertretbarkeit der Durchführung der klinischen Prüfung zu votieren. Lediglich bei rechtlich unzulässigen Auflagen der zuständigen Ethikkommission kann die Bundesoberbehörde die Stellungnahme insofern nicht berücksichtigen.

Vor dem Hintergrund dieser und weiterer Regelungen halte ich den Missbrauchsschutz für sehr vollständig. Daran können auch einzelne polemische Darstellungen nichts ändern. Kein Mensch kann gegen seinen Willen und ohne sein informiertes Einverständnisses zur Teilnahme an einer Studie gezwungen werden, das bleibt auch weiterhin so, daran gibt es keinen Änderungen.

DÄ: Dieselben Kritiker halten die vorgesehene Vorausverfügung für viel zu vage, um Rechtssicherheit herzustellen. Wie kann man hier Klarheit schaffen und welche Rolle spielt die ärztliche Aufklärung in diesem Zusammenhang?
Henke: Die ärztliche Aufklärung ist eine unabdingbare Voraussetzung für ein infor­miertes Einverständnis. Wenn man sich einmal vor Augen führt, was für denkbare Eingriffe überhaupt im Kontext eines minimalen Risikos und einer minimalen Belastung infrage kommen, dann ist es aus medizinischer Sicht jedenfalls möglich, einen Patienten darüber aufzuklären, was für einen Nutzen und was für ein Risiko diese Eingriffe haben könnten. Auch wenn das Design einer Studie noch nicht feststeht, können Nutzen und Risiken möglicher Eingriffe dargelegt werden.

Bei der gesetzlichen Regelung zur Ermöglichung der gruppennützigen Forschung an Minderjährigen im Jahr 2004 wurden diese Eingriffe zur besseren Verständlichkeit in der Begründung des damaligen Gesetzes konkretisiert: Es handelt sich um Messen, Wiegen, Befragen, Beobachten, Auswerten von Speichel-, Urin- und Stuhlproben, Auswerten bereits gewonnener Blutproben, zusätzliche Entnahme einer geringen Menge an Blut aus einem bereits vorhandenen Venenzugang, funktionsdiagnostische Untersuchungen wie EEG und EKG sowie Kapillarblutentnahmen, soweit dies für die Arzneimittelprüfung erforderlich ist.

Konkret ist bei der späteren Studie zu prüfen, ob die vorliegende Einverständnis­erklärung und die dokumentierte ärztliche Aufklärung dem Inhalt des jeweiligen Studienprotokolls entsprechen. Wegen der zentralen Rolle des informierten Einverständnisses war es mir sehr wichtig, zu erreichen, dass die Möglichkeit eines Verzichts auf die ärztliche Aufklärung ausgeschlossen wurde.

Bundestag stimmt für umstrittenes Gesetz über klinische Prüfungen

Berlin – Mit 357 Ja- und 164 Nein-Stimmen haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages heute namentlich dem „Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ zugestimmt. Das Gesetz passt deutsches Recht an die Vorgaben der EU-Verordnung über klinische Prüfungen (Nr. 536/2014) 

DÄ: Kathrin Vogler von den Linken sprach in der Bundestagsdebatte zum Arzneimittelgesetz von der dunklen Seite der Forschung. Wird die in Deutschland zu sehr betont?
Henke: Die klinische Prüfung von Arzneimitteln und die Erforschung des Verlaufes von Krankheiten sind eine notwendige Voraussetzung für den empirisch gewonnenen medizinischen Fortschritt. Erkenntnisse, die in klinischen Studien gewonnen werden, sind für die Weiterentwicklung der Medizin von überragender Bedeutung. Unsere strengen rechtlichen Regelungen für die Forschung am Menschen leiten sich aus der grundgesetzlich geschützten Würde des Menschen ab. Deshalb muss eine klinische Studie freiwillig sein. Nicht notwendige oder willkürliche Maßnahmen sind zu unterlassen; im Vorfeld hat eine gründliche Aufklärung stattzufinden.

Erstmals festgelegt im Nürnberger Kodex von 1947, sind diese Anforderungen für eine ethisch verantwortbare Forschung am Menschen Teil der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes. Diese ethischen Grundsätze für die medizinische Forschung haben nach ihrer Veröffentlichung Eingang in die deutsche Gesetzgebung und das Berufsrecht gefunden. Sie stellen die Konsequenz aus dem Unrecht medizinischer Experimente dar, welche zur Zeit des Nationalsozialismus an den Opfern von Konzentrationslagern durchgeführt wurden.

Der deutsche Gesetzgeber hat die stete Pflicht, Änderungen in den rechtlichen Grundlagen zu humanmedizinischer Forschung kritisch zu hinterfragen – gerade vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen in unserem Land. Deshalb müssen wir bei jeder gesetzlichen Änderung genau darauf achten, dass das hohe Schutzniveau für Teilnehmer an klinischen Studien erhalten bleibt.

Unter der Voraussetzung eines wirksamen informierten Einverständnisses kann ich keinen Würdeverstoß erkennen, wenn als Instrument des Einverständnisses auch eine Vorabverfügung zugelassen wird. Niemand wird dadurch zur Verfügungsmasse fremder Entscheidungen, deshalb ist der Vergleich mit der grausamen medizinischen Forschung im Nationalsozialismus auch völlig fehl am Platz. © HK/aerzteblatt.de

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