NewsPolitikBundessozialgericht: Vertragsärzte dürfen nicht streiken
Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...

Politik

Bundessozialgericht: Vertragsärzte dürfen nicht streiken

Mittwoch, 30. November 2016

/dpa

Kassel – Vertragsärzte dürfen nicht streiken. Auf das im Grundgesetz verankerte Streik­recht können sie sich nicht berufen, entschied heute das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel (Az: B 6 KA 38/15 R). Der 6. Senat wies damit eine Revisionsklage des Chefs des baden-württember­gischen Ärzteverbun­des Medi, Werner Baumgärtner, ab. Baumgärt­ner will nun Verfas­s­ungsbeschwerde einle­gen.

Baumgärtner hatte am 8. Oktober und 21. November 2012 seine Allgemeinarztpraxis in Stuttgart geschlossen und ausdrücklich erklärt, er wolle damit das ihm verfassungsrecht­lich zustehende Streikrecht wahrnehmen. An diesen Tagen gab es dann auch kleinere Kundgebungen mit weiteren Ärzten. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Baden-Würt­tem­berg hielt den Streik jedoch für unzulässig und erteilte Baumgärtner einen Verweis.

Seine dagegen gerichtete Klage wies das BSG nun ab. Nach Auffassung des 6. Senats gibt es für Vertragsärzte kein durch die Verfassung oder die Europäische Menschen­rechtskonvention geschütztes „Streikrecht“. Baumgärtner habe „seine ver­trags­ärztlichen Pflichten schuldhaft verletzt“. „Derartige, gegen gesetzliche Kranken­kassen und Kassen­ärztliche Vereinigungen gerichtete ,Kampfmaßnahmen’ sind mit der gesetzli­chen Konzep­tion des Vertragsarztrechts unvereinbar“, heißt es vom Gericht. Ver­tragsärz­te hätten eine „Präsenzpflicht“ und müssten daher während ihrer Sprechstunden ihren Patienten zur Ver­fügung stehen.

Die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung ist laut BSG den KVen als Körper­schaften des öffentlichen Rechts übertragen worden. In diesen Sicherstellungsauftrag ist nach Auffassung des Gerichts der einzelne Vertragsarzt aufgrund seiner Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung und seiner Mitgliedschaft bei der KV eingebunden.

Mit einem Streik könnten Ärzte ihre Forderungen nach höherer Vergütung und weniger Bürokratie nicht durchsetzen. Kon­­flik­te mit Krankenkassen um die Höhe der Gesamtver­gütung würden in diesem System nicht durch „Streik“ oder „Aussperrung“ ausgetragen, so die Richter. Stattdessen könnten die Kassenärzte bei Streitigkeiten mit Kranken­kas­sen oder KVen ein Schiedsamt anrufen und dessen Entscheidungen ge­richtlich überprü­fen lassen. Zu­dem gebe es keinen Gegner, der rechtlich in der Lage sei, Streikforderun­gen der nieder­gelassenen Ärzte zu erfüllen, sagte der Vorsitzende Richter.

Das BSG hält damit ein Urteil des Sozialgerichts Stuttgart. Das hatte ebenfalls entschie­den, die Bestimmungen des Vertragsarztrechts sähen ein ärztliches Streikrecht als Grund für eine Unterbrechung der Praxistätigkeit nicht vor. Baumgärtner dagegen argu­mentierte, Vertragsärzte dürften nicht schlechter gestellt sein als Arbeitnehmer oder Be­amte. Zu­dem habe der Streik nicht die Versorgung der Patienten gefährdet, da eine aus­rei­chen­de Notfallversorgung und Vertretung sichergestellt gewesen sei.

Das BSG betonte zugleich aber auch, dass politische Kundgebungen grundsätzlich zu­lässig seien. Wie eine Pra­xisschließung zur Teilnahme an einer Demonstration zu be­wer­ten ist, ließen die Kasseler Richter offen. Baumgärtner habe aber ausdrücklich einen Streik angekündigt.

Baumgärtner bedauerte die Entscheidung. „Ich hätte mir mehr Mut ge­wünscht und keine Fortsetzung nach der Maxime des unbedingten Systemerhalts“, sagte er. Der Medi-Chef nannte das Urteil „ein fatales Signal an den ärztlichen Nachwuchs“. Dieser habe wegen der Rahmenbedingungen immer weniger Lust hat, sich niederzulassen. Nach Auffassung Baumgärtners und der seiner Anwälte steht jedermann und jederfrau ein Streikrecht zu – auch allen Angehörigen eines freien Berufs, zu dem auch die Ver­trags­ärzte zählen. In den nächsten vier Wochen wollen Baumgärtners Anwälte den Gang vor das Bundes­ver­fassungsgericht vorbereiten. © dpa/afp/may/aerzteblatt.de

Kommentare

Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.
Avatar #697854
Dr.Bayerl
am Sonntag, 4. Dezember 2016, 21:21

verehrter Kollege@kairoprax ein Urteil ist kein Gesetz ...

... wenn man schon alles wörtlich nimmt.
Wörtlich genommen, ist es ein öffentlich gemachter Protest (Versammlungsfreiheit)
und die damit zwangsläufig verbundene Arbeitspause. Und in dieser Arbeitspause
wird auch kein Geld verdient von irgend einer Gewerkschaft.
Das kann man Ärzten nicht einfach verbieten mit eher virtuellen Argumenten.
Übrigens Argumente, die beispielhaft zeigen, wie "unfrei" dieser Beruf ist.
Er darf noch nicht einmal seine Sprechzeiten selbst bestimmen???
Und all die "Halb-" Viertel-" oder Achtelstellen???
Wie ist es da mit der „Präsenzpflicht“, einfach einen Patient schon um 12°° nach hause schicken und auf morgen oder übermorgen oder über-übermorgen vertrösten?
Das bleibt alles straffrei.
Eine öffentliche Versammlung aber nicht?

Avatar #110206
kairoprax
am Sonntag, 4. Dezember 2016, 18:23

Sorry, es hieß Leiharbeiter, nicht Hartz-IV-Empfänger


Practicus schrieb, es "hat jeder Leiharbeiter mehr Rechte als ein Vertragsarzt!", und nicht jeder Hartz-IV-Empfänger. An der Aberwitzigkeit ändert das jedoch nichts.
Avatar #110206
kairoprax
am Sonntag, 4. Dezember 2016, 18:14

erkennen welchen ärztlichen Interessen man dienen möchte


Mein lieber Herr "Zustimmung@Practicus",

von ärztlichem Interesse ist es, glaubwürdig und vertrauenswürdig zu sein.
Von ärztlichem Interesse ist es, sich
a)sachlich und
b) gesetzestreu zu verhalten.
Und rein menschlich ist es von Interesse, noch in den Spiegel schauen zu können, was z.B. auch heißt, am Versorgungsauftrag festzuhalten.
Ich bin es leid zu lesen, Hartz-IV-Empfänger hätten es besser als Vertragsärzte, nur weil sie streiken dürfen - solche Sätze und noch dümmere liest man als Unterstützungssätze für Baumgärtner, und Sie kennen diese Sätze auch.
Dieser Weltsicht auch nur einmal seine Solidarität auszudrücken, nee, Herr Zustimmung@Practicus, nicht einmal in Vollnarkose.

Avatar #697854
Dr.Bayerl
am Sonntag, 4. Dezember 2016, 09:11

Zustimmung@Practicus: Ärzte mit negativen "Privilegien"

Nicht nur die "Kostendämpfer", auch die Juristen in Deutschland (nicht in anderen Ländern!) haben eine Sonderbehandlung für uns geschaffen, was leicht ist, wenn man Kommentare wie von Dr.Karlheinz Bayer liest, der auch noch kritische Meinungsäußerung gerne unter Strafe stellen möchte.
Ich kann nicht erkennen welchen ärztlichen Interessen Dr.Karlheinz Bayer dienen möchte, wie er behauptet.
Ärztliche Tätigkeit ist "juristisch" grundsätzlich per Gesetz "strafbare Handlung", wo gibt es das sonst noch?
Wo gibt es das sonst noch, dass der Leistungserbringer Geld bezahlen muss für medizinisch vernünftige und auch gewünschte Leistungen, die er von dem Leistungsempfänger nicht zurück erhält, wie in jedem normalen Geschäftsverhältnis üblich.
Eine solche mit fremdbestimmter "Budgetüberschreitung" begründete Bestrafung kann man doch nicht als privilegierten freien Beruf bezeichnen?
Der Arzt ist Manipulationsobjekt fremder Interessen geworden, die auch einem Trend zu öffentlichen Heuchelei entsprechen, einem Trend Schlechtes gut zu reden, einem Trend zur Entsolidarisierung und Entsozialisierung, keineswegs immer ökonomisch sinnvoll.
Avatar #110206
kairoprax
am Samstag, 3. Dezember 2016, 10:39

Baumgärtners Recht ist nicht Deutsches Recht - kann nicht einmal Ärzten recht sein!


Liebe Leser des Deutschen Ärzteblatts,

weil das Deutsche Ärzteblatt von viel mehr Menschen gelesen als nur von Ärzten oder gar von Baumgärtner-Anhängern, ist es sicher notwendig, hier aus ärztlicher Sicht zum Ausdruck zu bringen, daß an diesem Urteil nichts auszusetzen ist.

Es ist richtig, es ist gerecht und es ist zudem allgemeinverständlich erklärend formuliert. In einer ersten Reaktion hat sogar Baumgärtner sich geäußert, er habe es so erwartet.
Grotesk und umso weniger nachvollziehbar ist die jetzt von Baumgärtner gemachte Richterschelte.

"Mehr Mut" hätte er sich gewünscht, zu deutsch, er hätte sich gewünscht, daß die Richter abweichen vom Gesetz.
Es sei ein "fatales Signal". Das Fatum (Schicksal!) des Ärztenachwuchs hängt weiß Gott nicht daran, ein in sich bei logischem Nachdenken nicht einmal gegebenes Streikrecht durchsetzen zu müssen. Fatal wäre es ganz im Gegenteil, und dann wirklich fatal im Wortsinn, wenn sich Bundesrichter auf ein sinnwidriges Vorhaben einlassen würden, denn dann hätten wir Bürger keine Garantie mehr auf die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit.
Ist es ein Wunder, daß Erdogan auf seinem Weg aus der Demokratie zuerst Richter entlassen hat?

Wenn Baumgärtner vom "Systemerhalt" sprich, oder gar den Ausdruck "Maxime des Systemerhalts" benutzt dafür, daß Bundesrichter auf dem Boden deutscher Gesetze urteilen, dann plädiert er doch für eine höchstrichterlich autorisierte Gesetzesübertretung. Es ist problematisch, wenn jemand die freiheitlich-demokratische Grundordnung als "System" bezeichnet.

Baumgärtner ist nicht der oberste Heerführer der Ärzteschaft. Er vertritt nicht einmal in Baden-Württemberg eine Mehrheit, allerdings eine größere Gruppe innerhalb der Ärzteschaft. Was diesen Gang vor ein Bundesgericht allerdings in einem schrägen Licht erscheinen läßt ist, daß er nicht als MEDI-Chef vor Gericht gegangen ist, sondern als gewöhnlicher Praxisinhaber.

Zur Verdeutlichung, einerseits Baumgärtner MEDI-Chef, andererseits aber auch ganz gewöhnlicher Vertragsarzt, hat seine Praxis - nach dem BSG-Urteil darf man das wohl sagen - im Jahr 2012 zweimal vertragswidrig geschlossen und das einen "Streik" genannt.
Daraufhin hat er sich von der KV-Baden-Württemberg, geleitet von einem Chef, der ebenfalls MEDI angehört, rügen lassen und einen "Verweis" bekommen.
Mit diesem Verweis ist Baumgärter dann vor ein Stuttgarter Gericht gezogen, jetzt wieder ganz MDEI-Chef und publikumswirksam.
Es ist erfeulich, daß die Stuttgarter Richter die Sprungrevision zugelassen haben, nachdem sie Baumgärtner beschieden, daß er falsch liege. Auf die Art und Weise wurde auch ein längeres Medienspektakel verhindert.

Jetzt steht in diesem Artikel, der Chef des Ärztebundes MEDI habe in Kassel den Prozeß verloren.
Stimmt das?
In Wahrheit hat der Vertragsarzt Baumgärtner den Prozeß verloren, weil sich der Vertragsarzt Baumgärtner vertragswidrig verhalten hat, aber doch nicht die MEDI!

Ich würde als MEDI-Beitragszahler in dem eingetragenen Verein MEDI schon nachfragen, ob der MEDI-Chef Baumgärtner sich seinen privaten Prozeß durch den Verein hat bezahlen lassen.
Ich bin kein MEDI-Beitragszahler, aber ich würde gerne wissen, ob sich eine solche Verquickung von Privat und Verein mit dem Vereinsrecht, das ebenso wie das Streikrecht ein Teil des "Systems" Deutschland ist, vereinbaren läßt.

Es stellt sich darüber hinaus die grundsätziche die Frage, ob sich ein Verbandschef, ein ehemaliger Vorsitzender einer Kassenärztlichen Vereinigung und ein Delegierter zur Vertreterversammlung einer KV so verhalten darf, wie es jedem anderen Arzt nicht gestattet ist.
Wo kämen wir hin, wenn jeder Arzt seine Praxis schließen würde und ein Schild an die Tür hängen würde, er würde streiken! Der Normalarzt kann sich dann den folgenden jurstischen Streit von MEDI bezahlen lassen.

Das war kein Musterprozeß!

Ein Musterprozeß geschieht im Einvernehmen "des Systems" mit "dem System". Dieser Prozeß war ein absichtlich herbeigeführter, unter Mißachtung der Verträge, an die wir Ärzte allesamt gebunden sind.

Zur Erklärung: im Rahmen der Demonstrationen (nicht der Streiks!) im Jahr 2012 haben sich auch etliche andere normale Arztpraxen an den Protesten beteiligt. Ich auch. Allerdings haben wir uns damals (wie sicher auch zukünftig) darauf verständigt, daß eine Vertretung und ein Notdienst eingerichtet wurde.
Das geschah, weil wir normalen Ärzte uns sehr wohl des Versorgungsauftrags bewußt geblieben sind, der auch dann bestehen bleibt, wenn wir für unsere Angelegenheiten auf die Straße gehen.

Hätte Baumgärtner das genauso gemacht, wäre alles korrekt geblieben. So aber, und daß ist tatsächlich ein falsches Signal, hat er in seiner Funktion als Chef wider besseren Wissens suggeriert, man könne ungestraft das Recht brechen.

Schade, daß die Verfassungsrichter, die Baumgärtner jetzt bemühen will, keine Strafrichter sind. Ich würde mir wünschen, daß auch das Deutsche Ärzteblatt ein rechtswidriges Verhalten, das sogar vom BSG als solches beurteilt wurde, ohne Wenn und Aber auch so publizieren würde. Sonst hört dieses Theater am Ende nie auf, zum Nachteil der gesamten Ärzteschaft.

Dr.Karlheinz Bayer


Avatar #79783
Practicus
am Mittwoch, 30. November 2016, 20:56

Diese Konstruktion

setzt aber ein Mindestmaß an Autonomie der Kassenärztlichen Vereinigungen voraus! Was die diversen Kostendämpfungsgesetze von der "Selbsverwaltung" übrig gelassen haben, ist doch nur mehr ein kümmerliches Skelett. Wenn das "Selbstverwaltungsstärkungsgesetz" diese letzten Reste auch noch pulverisiert, hat jeder Leiharbeiter mehr Rechte als ein Vertragsarzt!
Das Konstrukt des "befreienden Gesamthonorars", dessen Wachstum ausdrücklich unabhängig von Morbidität und Demografie an einer bizarren Größe namens "beitragspflichtige Grundlohnsumme" gesetzlich festgemacht wird, ist völlig unvereinbar mit der Vorstellung eines freien Berufs.
Seehofer hat damals gegenüber Schorre und Ocklenburg wörtlich gesagt (1992): "Natürlich weiß ich, dass das verfassungswidrig ist - wozu habe ich Hunderte Juristen in meinem Ministerium. Sie können ja gern klagen - wenn sie dann ihn zehn Jahren gewonnen haben, machen wir in 14 Tagen ein neues Gesetz, und dann können sie wieder klagen..."
Die Chance, den Kassen den Sicherstellungsauftrag vor die Füße zu werfen und ein Kostenerstattungsprinzip zu erzwingen, wurde von den KVen in den 90er-Jahren unwiderruflich vertan.
Jetzt plagen wir uns mit dem Vertragsarztrecht herum, dass den "freien Beruf" Arzt zur Karikatur verzerrt und können höchstens darauf hoffen, dass BVG und EUGH die ganze Willkür dieses Gesetzes als sittenwidrig und grundrechtswirdrig erklären.
Ich muss das nicht mehr lange aushalten - die jungen Kollegen tun mir leid
LNS
LNS LNS

Fachgebiet

Stellenangebote

    Weitere...

    Aktuelle Kommentare

    Archiv

    NEWSLETTER