Ärzteschaft
Polypharmazie: Barmer GEK und Kassenärzte wollen Therapiesicherheit erhöhen
Dienstag, 6. Dezember 2016
Berlin – Barmer GEK und Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) wollen künftig gemeinsam das Risiko von Arzneimittelwechselwirkungen für Patienten senken, die mehr als fünf Medikamente einnehmen müssen. Das Projekt mit dem Namen AdAM (Anwendung für ein digitales unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management) wird mit 16 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds gefördert, der beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) angesiedelt ist.
Im Versorgungsalltag sei es für den Hausarzt oft schwierig, sich einen Überblick über alle ärztlichen Verordnungen für seine Patienten zu verschaffen, betonte Thomas Müller, designierter Vorstand der KVWL, bei der Vorstellung des Projektes in Berlin. Mit AdAM solle sich das ändern. „Der Hausarzt kann die Arzneitherapie koordinieren und optimieren. So werden auch Doppelverordnungen, Wechselwirkungen oder Dosierungsfehler sichtbar, und der Arzt kann reagieren“, erklärte er.
1.400 Hausärzte in Westfalen-Lippe sollen in das Projekt eingebunden werden. 1.000 von ihnen haben bereits im Vorfeld Absichtserklärungen unterzeichnet. Voraussetzung, damit Hausärzte an dem Projekt teilnehmen können, ist das KV SafeNet, das sichere Netz der KVen. Zudem muss der Arzt mindestens 30 Patienten versorgen, die mindestens fünf Arzneimittel gleichzeitig einnehmen müssen. 35.000 Versicherte hat die Barmer GEK in Westfalen-Lippe ausgemacht, die für eine Teilnahme infrage kommen. Sie sollen nun von der Krankenkasse und den beteiligten Ärzten angesprochen und um Teilnahme gebeten werden. Diese ist für Patienten freiwillig, sie müssen aktiv einwilligen, dass die behandelnden Ärzte ihre Medikationen einsehen dürfen.
Der Hausarzt erhält – Einwilligung des Patienten vorausgesezt – von der Krankenkasse im Rahmen des Projektes eine Liste über die verordneten Arzneimittel und behandlungsrelevante medizinische Informationen. Die Arzneimittel des Patienten gehen in dessen Medikationsplan ein, der auch die vom Patienten angegebene Selbstmedikation enthält und für den Patienten ausgedruckt wird.
Künftig sollen teilnehmende niedergelassene Haus- und Fächärzte alle von Ärzten verschriebenen Medikamenten der eingeschriebenen Patienten in einem Webportal, also mit Zugang über einen gängigen Internetbrowser, einsehen können. Dabei wird nicht nur angegeben, welche Präparate ein Patient verordnet bekommen hat, sondern auch, über welchen Zeitraum er diese einnehmen soll. „Das verbessert den Überblick, den die behandelnden Ärzte haben müssen, um im Rahmen der Arzneimitteltherapiesicherheit eine richtige Verordnung tätigen zu können“, erklärte Müller. Die Daten werden automatisch von der Barmer GEK über eine Schnittstelle an die KVWL übermittelt, die diese über die Software für den Arzt aufbereitet.
Neu ist, dass Haus- und Fachärzte auch innerhalb von 48 Stunden sehen können – in dieser Zeit müssen die Kliniken ihre Verordnungen an die Krankenkasse melden –, welche Medikation Krankenhausärzte verordnet haben. Umgekehrt ist das noch nicht möglich. Es sei aber „wünschenswert“, dass Klinikärzte genauso Zugriff auf die Verordnungen der niedergelassenen Kollegen hätten, sagte Müller auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblattes. Stellen Haus- oder Fachärzte anhand der Übersicht fest, dass es zu gefährlichen Wechselwirkungen von Arzneimitteln kommen kann, oder sehen sie Verbesserungsbedarf bei der Medikation eines Patienten, sollen sie miteinander über Korrekturen sprechen. Der Hausarzt leitet das Projekt federführend für seine Patienten.
Aus Sicht der Partner soll das Projekt nicht nur die Versorgung verbessern, sondern auch Einsparpotenziale heben. In einem Vorgängermodell in Westfalen-Lippe hatte die KVWL ihren Angaben zufolge bereits eine Ersparnis von elf Prozent bei Arzneimittelmenge und Preis erzielt. Die Mittel, die an Arzneimittelausgaben im neuen Projekt von KVWL und Barmer GEK eingespart werden, werden zum Teil verwendet, um den teilnehmenden Ärzten den Mehraufwand zu vergüten. Ärzte, die in dem Projekt eingeschrieben sind, erhalten einmalig 80 Euro pro Patient und Jahr, ein innerärztliches Konsil zur Besprechung von Medikationen wird zusätzlich mit einmalig 40 Euro pro Patient und Jahr honoriert. Der Arzthonoraranteil des Projektes beläuft sich nach Angaben der KVWL auf rund sieben Millionen Euro.
„AdAM macht die Therapie der Patienten, die mehrere Medikamente gleichzeitig nehmen müssen, sicherer und effizienter“, betonte Mani Rafii, Vorstand der Barmer GEK. Studien wiesen darauf hin, dass sich bis zu 20 Prozent der Arzneimitteltherapiekosten einsparen ließen – das wären laut Barmer GEK bei einer Überführung in die Regelversorgung bei allen Krankenkassen bis zu 2,75 Milliarden Euro.
Rafii wies zudem darauf hin, dass AdAM keine Konkurrenz zu dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Medikationsplan darstelle. Es solle diesen vielmehr „befüllen“, erklärte er. Seit dem 1. Oktober 2016 haben gesetzlich versicherte Patienten, die mindestens drei verordnete Arzneimittel anwenden, Anspruch auf den Medikationsplan. Darin sollen alle eingenommenen systemischen Arzneimittel mit Dosierungs- und Einnahmehinweisen dokumentiert werden. Er ist zunächst nur in Papierform vorgesehen. Grundlage ist das E-Health-Gesetz, das zum Ende vergangenen Jahres in Kraft getreten ist.
Besonders wichtig ist es der KVWL und der Barmer GEK, AdAM wissenschaftlich zu begleiten, um am Ende den Sprung in die Regelversorgung zu schaffen. Drei Jahre soll das Projekt laufen und im September 2019 abgeschlossen werden. Partner sind neben der KVWL und der Barmer GEK die Universitäten Köln, Frankfurt/Main, Bochum und Bielefeld sowie die Uniklinik Köln. Sie sollen unter anderem für die Evaluation der Projektergebnisse sorgen. Hilfestellungen für den Arzt zum Management von Polypharmazie wird die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin liefern, die mit mehr als 20 weiteren Fachgesellschaften, unter anderem der DEGAM, kooperiert. © may/aerzteblatt.de

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