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Medizin

FDA: Wiederholte und längere Narkosen könnten Kleinkindern schaden

Freitag, 16. Dezember 2016

dpa

Silver Spring – Wiederholte oder längere Vollnarkosen oder Sedierungen in der Schwangerschaft oder in den ersten drei Lebensjahren schaden möglicherweise der späteren kognitiven Entwicklung von Kindern. Zu dieser Einschätzung gelangt die US-Arzneimittelbehörde FDA aufgrund von tierexperimentellen Studien und epidemio­logischen Beobachtungen, auch wenn jüngste Untersuchungen den Verdacht nicht bestätigt haben. Die Hersteller von Anästhetika und Sedative müssen entsprechende Warnhinweise in die Fachinformationen übernehmen.

Über die Sicherheit von Anästhetika und Sedativa wird seit 1999 diskutiert. Damals kam in einer Studie heraus, das Wirkstoffe, die den NMDA-Rezeptor im Gehirn blockieren, den Tod von Hirnzellen herbeiführen. Dazu gehören Anästhetika wie Desfluran, Isofluran, Sevofluran, Halothan, Etomidate, Ketamin, Propofol und Methohexital. Aber auch Sedativa wie Lorazepam, Midazolam oder Pentobarbital blockieren NMDA-Rezeptoren.

Es folgten Studien, in denen die Verwendung von Anästhetika während der Zeit des schnellen Gehirnwachstums oder der Synaptogenese den Verlust von Nervenzellen oder Stützgewebe (Oligodendrozyten) zur Folge hatte. Betroffen ist eine Phase, die vom dritten Trimenon der Schwangerschaft bis zum dritten Lebensjahr reicht.

Schäden beim Feten wurden beobachtet, wenn schwangere Primaten im dritten Trimenon über 24 Stunden mit Ketamin oder über fünf Stunden mit Isofluran oder Propofol exponiert waren. Eine Narkose von neugeborenen Primaten mit Ketamin über drei Stunden führte dagegen zu keinem Zellverlust.

Die Exposition mit Ketamin über 24 Stunden oder über fünf Stunden oder mehr mit Isofluran plus Distickstoffoxid oder Propofol führten dagegen zum Absterben von Hirnzellen. In einigen tierexperimentellen Studien – etwa an Nagern, die mit Isofluran behandelt wurden, oder bei Primaten die mit Ketamin behandelt wurden – wurden später kognitive Defizite oder Lernstörungen beobachtet, die mit dem Verlust an Hirnzellen durch die Anästhesie in Verbindung gebracht wurden.

Die Ergebnisse epidemiologischer Studien waren nicht eindeutig. In einigen Studien wurde eine Assoziation zwischen der pädiatrischen Expositionen mit Narkotika und späteren Entwicklungsstörungen gefunden, in anderen jedoch nicht. Wie immer bei epidemiologischen Studien ist es schwierig, eine Kausalität zu belegen. Endgültige Klärung wird von zwei aktuellen Untersuchungen erhofft.

Die erste Untersuchung ist eine prospektive klinische Vergleichstudie. Die GAS-Studie („General Anesthesia Compared to Spinal Anesthesia“) randomisierte mehr als 500 Kinder, die in den ersten 60 Wochen nach der Geburt operiert werden mussten, auf eine Regionalanästhesie oder auf eine Sevofluran-basierte Vollnarkose. Primärer Endpunkt ist der IQ der Kinder im Alter von fünf Jahren, bestimmt mit dem Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence Third Edition (WPPSI-III). Die Ergebnisse stehen noch aus.

Der sekundäre Endpunkt der GAS-Studie ist die kognitive Entwicklung im Bayley III (Bayley Scales of Infant and Toddler Development III) im Alter von zwei Jahren. Die Ergebnisse wurden vor kurzem publiziert (Lancet 2016; 387: 239-250). Andrew Davidson vom Murdoch Childrens Research Institute in Melbourne fanden keine Unterschiede zwischen den 294 Kindern, die eine Vollnarkose über im Mittel 54 Minuten erhalten hatten, und den 238 Kindern mit einer Regionalanästhesie. Die Autoren schlossen daraus, dass eine Narkose mit Isofluran über weniger als eine Stunde sicher ist. Eine abschließende Bewertung wird laut FDA aber erst möglich sein, wenn der IQ der Kinder im Alter von fünf Jahren verglichen wurde.

Die zweite laufende Untersuchung ist die PANDA-Studie („Pediatric Anesthesia NeuroDevelopment Assessment“). Im Gegensatz zur GAS-Studie ist die PANDA-Studie eine epidemiologische Untersuchung. Sie vergleicht die kognitive Entwicklung von Geschwisterpaaren, von denen sich eines in den ersten 36 Lebensmonaten unter Allgemeinanästhesie einer Hernienoperation unterzogen hat. Die mittlere Narkosedauer betrug 84 Minuten, bei 17 Kindern dauerte sie länger als zwei Stunden. Wie Lena Sun von der Columbia University in New York kürzlich im amerikanischen Ärzteblatt (JAMA 2016; 315: 2312-2320) mitteilte, gab es im Alter von acht bis 15 Jahren zwischen den Geschwisterpaaren keine Unterschiede im IQ, dem primären Endpunkt der Studie. Die Werte lagen in beiden Gruppen leicht über dem Altersdurchschnitt. Auch bei den meisten sekundären Endpunkten waren keine Unterschiede erkennbar. Die exponierten Kinder zeigten lediglich etwas häufiger eine anormale „Internalisierung“ (sprich: Schüchternheit). Dies könnte nach Einschätzung der FDA jedoch ein Zufallsergebnis gewesen sein. 

Die PANDA-Studie war zwar frei von vielen Schwächen früherer epidemiologischer Studien. Sie kann jedoch nicht ausschließen, dass mehrfache längere Vollnarkosen in den ersten Lebensjahren zu Schäden führen. Offen ist auch, ob Kinder mit Vorerkrankungen (die sich möglicherweise mehreren Operationen unterziehen müssen) gefährdet sind. Da 90 Prozent der Studien Jungen waren, bleibt unklar, ob Mädchen anfälliger für Schäden sein könnten. 

Die FDA kommt aufgrund der Ergebnisse der PANDA-Studie und der vorläufigen Ergebnisse der GAS-Studie zu dem Schluss, dass eine einzelne Vollnarkose von kurzer Dauer bei gesunden Kindern vermutlich keine Schäden hinterlässt, was auch zu den Kurzzeitergebnissen der tierexperimentellen Studien passt. Endgültig geklärt ist die Frage jedoch nicht. Die FDA hat deshalb zusammen mit der International Anesthesia Research Society (IARS) eine Initiative namens SmartTots (Strategies for Mitigating Anesthesia-Related neuroToxicity in Tots) gegründet. Dort sind weitere Studien zur Sicherheit der Narkose und zum Einsatz von Sedativa geplant. © rme/aerzteblatt.de

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