Ausland
Schmerzmittel: Amerikas stille Sucht
Freitag, 30. Dezember 2016
Washington – Die Katastrophe rollt seit Jahren heran, aber niemand hat sie sehen wollen: Vor allem in ländlichen, ärmeren Regionen der USA sind Millionen Menschen süchtig nach Opioiden. In manchen Gebieten ist bereits der Notstand ausgerufen worden. „Wir sagen jedes Jahr, schlimmer kann es eigentlich nicht werden. Doch bis wir hier eine Trendumkehr schaffen, wird es noch lange Zeit dauern“, sagte Caleb Alexander, Co-Direktor des Johns Hopkins Center für Medikamentensicherheit.
Offiziellen Zahlen zufolge waren 2014 etwa zwei Millionen US-Amerikaner süchtig nach Opioiden, die eigentlich nur bei stärksten Schmerzen eingenommen werden sollten. Die Mittel sind vom chemischen Aufbau her eng mit Heroin verwandt, wirken ähnlich und machen extrem schnell abhängig. Daneben waren rund 600.000 Menschen heroinsüchtig. Weitere 2,5 Millionen Menschen nehmen Schmerzmittel langfristig auf Rezept ein, wie eine Studie aus dem Jahr 2012 ergab; hier ist die Grenze zwischen Abhängigkeit und Missbrauch fließend.
All das hat fatale Folgen: Fast 19.000 Menschen starben nach Angaben der Gesundheitsbehörde CDC im Jahr 2014 an einer Überdosis dieser Schmerzmittel – vor allem in ärmeren, ländlichen und weißen Gebieten der USA. 10.000 Todesopfer kamen durch Heroin dazu.
In den 1990er Jahren wurden die starken Schmerzmittel recht freizügig verordnet. Dann setzte ein Schneeballeffekt ein. Immer mehr Menschen, oft in instabilen Lebensverhältnissen, suchten den Wohlfühl-Kick. Für einen Teil der Betroffenen folgt auf die Arzneien Heroin, denn die illegale Droge ist oft billiger zu bekommen als die verschreibungspflichtigen Schmerzmittel. Daneben sind noch stärkere, synthetische Opioide ein großes Problem – etwa das Medikament Fentanyl, das 50 Mal stärker als Heroin ist. Der Musiker Prince beispielsweise starb an einer Überdosis Fentanyl. Oft wird es in China oder Mexiko produziert und ins Land geschleust oder via Internet bestellt.
Manche Süchtige greifen inzwischen sogar zu Mitteln, mit denen sonst Elefanten betäubt werden: Carfentanil, 100 Mal stärker noch als Fentanyl, lässt derzeit die Überdosisraten im ländlichen Ohio sprunghaft ansteigen. „Statt vier oder fünf Überdosen pro Tag haben wir nun 20, 30, 40, manchmal 50 Überdosen, berichtete Polizist Tom Synan aus dem betroffenen Bezirk in Ohio. Auch Virginia hat deshalb jetzt einen Gesundheitsnotstand verhängt.
Opioide: Abhängigkeitsrisiko bei erstmaliger Verschreibung
Portland – Verlangen Patienten eine höhere Dosierung oder einen sofortigen Nachschub einer Opiodtherapie, sollte jeder Arzt hellhörig werden. Vor allem bei Patienten, die zum ersten Mal Opiode zur Schmerzlinderung einnehmen, ist Vorsicht geboten. Ab wann der Opiodeinsatz das Risiko einer längerfristigen Einnahme birgt, haben Forscher der Oregon Health and Science University in einer retrospektiven [...]
Andere Abhängige betreiben Arzt-Hopping, versuchen irgendwie an Rezepte und Pillen zu gelangen – notfalls auch über Familienmitglieder: Ein TV-Spot zeigt einen alten Mann vor dem Badezimmer-Schrank beim Griff nach den Schmerztabletten. Plötzlich ist statt des Mannes das Spiegelbild der Teenager-Enkelin zu sehen, die die Pillen schluckt. „Wissen Sie, wer Ihre Schmerzmittel nimmt?“, fragt eine Stimme. Mehr Aufklärung für Patienten, mehr Informationen für Ärzte, mehr Monitoring-Programme, mit denen die US-Bundesstaaten die Verschreibungsgeschichte der Patienten elektronisch überwachen können – im Jahr 2016 gab es einige Ansätze.
Daneben veröffentlichte die nationale Gesundheitsbehörde CDC im Frühjahr strengere Richtlinien zur Verschreibungspraxis: Opioide werden als „gefährlich“ eingestuft, von ihrem Langzeit-Einsatz gegen chronische Schmerzen – abseits von Krebsleiden – wird abgeraten. „Erfreulich war auch, dass über Parteigrenzen hinweg ein Gesetz verabschiedet wurde, das Opioid-Sucht als Krankheit einstuft und sie nicht sofort kriminalisiert“, betonte Caleb Alexander vom Johns Hopkins Center für Medikamentensicherheit.
Die Obama-Regierung wollte das Budget für den Kampf gegen die Sucht auf rund eine Milliarde Dollar aufstocken. Allerdings sagte der Kongress zunächst nur 181 Millionen zu und verschob die Entscheidung über weitere 500 Millionen ins nächste Haushaltsbudget. Dazu kommt: Die Pharmaindustrie unterhält mit viel Geld eine starke Lobby, die in Washington für Schmerzmittel wirbt. In einer gesponsorten Studie wollen Hersteller herausgefunden haben, dass rund 40 Prozent der Amerikaner unter behandlungsbedürftigen chronischen Schmerzen leiden.
Auch der Zulassungsbehörde FDA sowie der medizinischen Überprüfungsbehörde DEA und dem Justizministerium werden Versäumnisse vorgeworfen. Eine groß angelegte Recherche der Washington Post zeigte, dass pharmakritische Untersuchungen einzelner DEA-Mitarbeiter abgeblockt wurden – von ihren Vorgesetzten sowie dem übergeordneten Justizministerium.
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Im Visier hatten die DEA-Mitarbeiter sogenannte Wholesaler. Einige dieser riesigen Drogerie- und Lebensmittelmärkte mit integrierter Apotheke haben offenbar in großem Stil und nach fragwürdigen Standards Schmerzmittel verkauft. Mit Blick auf den noch unklaren Kurs der künftigen Regierung sagt Alexander: „Eine weitere Deregulierung der Wholesaler wäre schlecht.“
Der Leiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes, Vivek Murthy, gab in seinem viel beachteten neuen Report zur Sucht in Amerika eine Marschrichtung vor. Derzeit komme nur einer von zehn Süchtigen in Behandlung, kritisierte Murthy. „Wir haben schon Fortschritte gemacht. Wie setzen wir das nun fort? Ein Schlüssel dafür ist sicherzustellen, dass Menschen eine Krankenversicherung haben.“
In Deutschland liegen zum Thema Opioid-Sucht kaum Zahlen vor. Laut „Jahrbuch Sucht 2016“ sind schätzungsweise 1,9 Millionen Menschen in Deutschland arzneimittelabhängig, etwa 1,5 Millionen davon nehmen Schlaf- und Beruhigungsmittel. Besonders betroffen: ältere Frauen. Zu Schmerzmitteln gibt es keine Angaben. Allerdings steigt der Gebrauch starker Opioide seit Jahren an.
Einer der Experten, Rüdiger Holzbach, erarbeitet zusammen mit dem Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Uni Hamburg eine Schmerzmittel-Studie. Vorab ist zu erfahren, dass immer mehr Rezepte für eine Langzeitanwendung ausgestellt werden. Im Jahr 2006 waren noch 19 Prozent der Opioid-Verschreibungen Langzeitverschreibungen. Vier Jahre später lag der Anteil bei 21 Prozent. Das Thema werde absolut stiefmütterlich behandelt, beklagte der Forscher. © dpa/aerzteblatt.de

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