Politik
Tarifeinheitsgesetz: Bundesverfassungsgericht prüft Gewerkschaftsklagen
Dienstag, 24. Januar 2017
Karlsruhe – Ob Ärzte, Lokführer oder Fluglotsen – in der Ablehnung der neuen Tarifeinheit sind sich die Gewerkschaften einig. Kippt Karlsruhe das Gesetz noch? Für Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) wird es heute ernst. Die Karlsruher Richter verhandeln bis morgen zwei volle Tage über die im Juli 2015 in Kraft getretene Neuregelung. Dagegen geklagt haben etliche Gewerkschaften (unter anderem Az. 1 BvR 1571/15). Sie bangen um ihre Koalitionsfreiheit und ihr Streikrecht – und damit um ihren Einfluss.
Denn das Gesetz regelt, dass sich bei mehreren konkurrierenden Tarifverträgen künftig diejenige Gewerkschaft durchsetzt, die in dem betroffenen Betrieb die meisten Mitglieder hat. Die unterlegene Gewerkschaft kann sich nur anschließen und den Vertrag nachzeichnen. Mit dieser Regelung will die große Koalition wieder für klare Verhältnisse sorgen. Denn eine jahrzehntelange Praxis nach dem Motto „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ hatte das Bundesarbeitsgericht im Jahr 2010 gekippt. Damit waren auf einmal mehrere Verträge zulässig.
Marburger Bund erhebt Verfassungsbeschwerde gegen Tarifeinheitsgesetz
Berlin – Der Marburger Bund (MB) hat gegen das heute in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich beim Bundesverfassungsgericht den Antrag gestellt, die Anwendung des Gesetzes bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen. Der MB begründet die Verfassungsbeschwerde damit, dass das Tarifeinheitsgesetz gegen die im Grundrecht garantierte [...]
Die Gewerkschaften kritisieren das Tarifeinheitsgesetz als verfassungswidrig. Die Ärztegewerkschaft Marburger Bund sieht sich durch die Tarifeinheit in besonderem Maße beeinträchtigt. Die Ärzte stellten im Betrieb immer eine Minderheit dar, sagte der Vorsitzende Rudolf Henke heute in Karlsruhe bei der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über das Gesetz zur Tarifeinheit.
In einem Krankenhaus könne der Marburger Bund maximal 15 Prozent der Beschäftigen organisieren – das sei in der Regel der Anteil der Ärzte an der Belegschaft, sagte Henke weiter. Es würde die Gewerkschaft schwer beeinträchtigen, wenn sie nur noch als „Bittsteller“ gesehen würde und bei Tarifverhandlungen nur noch am „Katzentisch“ Platz nehmen dürfte. Dies aber sei die Folge der Neuregelungen.
In seiner Stellungnahme macht der MB-Vorsitzende zudem deutlich, dass die vom MB vertretenen angestellten Ärzte die Zusage aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz einbüßten, wenn man das Grundrecht der Koalitionsfreiheit an die Übereinstimmung mit einer betrieblichen Mehrheit binde. „Wer ein Grundrecht unter Mehrheitsvorbehalt stellt, der schafft es praktisch ab“, sagte Henke unter Bezugnahme auf die Mehrheitsregel im Tarifeinheitsgesetz.
Gegen das Gesetz klagen neben dem Marburger Bund zahlreiche andere Gewerkschaften. In Karlsruhe sind elf Klagen anhängig. Fünf davon nimmt der Erste Senat unter Vizegerichtspräsident Ferdinand Kirchhof beispielhaft unter die Lupe. Mehrere Eilanträge gegen das Gesetz hatten die Verfassungsrichter im Oktober 2015 abgewiesen. Der Ausgang im Hauptsacheverfahren sei aber offen, hieß es damals.
Ministerin Nahles hat sich in Karlsruhe für beide Verhandlungstage angekündigt. Sie betonte, das Gesetz solle „Anreize für Kooperation und Abstimmung“ schaffen. Es sei bedenklich und auch nicht im Interesse der Arbeitnehmer, wenn Gewerkschaften mehr miteinander stritten als mit dem Arbeitgeber und das Belegschaften entzweie.
Nach den beiden Verhandlungstagen wird der Senat im Geheimen beraten und sein Urteil ausarbeiten. Die Verkündung der Entscheidung dürfte frühestens in einigen Monaten zu erwarten sein.
Wichtige Fragen und Antworten:
Worum geht es in Karlsruhe?
Um das im Juli 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz. Es regelt, was passiert, wenn mehrere Gewerkschaften miteinander konkurrieren und für denselben Bereich verschiedene Tarifverträge abschließen. Über viele Jahre gaben die Gerichte bei solchen Konflikten dem Abschluss den Vorrang, der den Erfordernissen im Betrieb am besten gerecht wurde – bis das Bundesarbeitsgericht 2010 entschied, dass es auch unterschiedliche Regelungen nebeneinander geben kann. Um einheitliche Verhältnisse zu wahren, schrieben Nahles und die große Koalition den Grundsatz der Tarifeinheit ins Gesetz.
Wie sieht die neue Regelung aus?
Vorgesehen ist, dass bei Überschneidungen nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft gilt, die in dem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Welche das ist, haben im Zweifel die Arbeitsgerichte zu klären. Die kleinere Gewerkschaft zieht also zwangsläufig den Kürzeren. Ihr bleibt nur, sich dem Abschluss der Mehrheit durch „Nachzeichnung“ anzuschließen. Aus Sicht der Bundesregierung soll das den Betriebsfrieden sichern und „Verteilungskämpfe“ vermeiden.
Warum gibt es dagegen Protest?
Von Anfang an stand der Vorwurf im Raum, dass damit kleine, aber durch ihre Einflussmöglichkeiten mächtige Gewerkschaften kaltgestellt werden sollen. Zum Beispiel die Lokführergewerkschaft GDL – während in Berlin am Gesetz gefeilt wurde, legte sie im Tarifstreit mit der Deutschen Bahn in mehreren Streikwellen über Tage den Zugverkehr lahm. Die GDL, die auch Zugbegleiter vertritt, hat deutlich weniger Mitglieder als die Konkurrenz von der Eisenbahnergewerkschaft EVG. Aber auch andere sehen ihre Felle davon schwimmen. In Karlsruhe sind aktuell elf Verfassungsbeschwerden gegen die Tarifeinheit anhängig. Fünf davon nimmt der Erste Senat nun beispielhaft unter die Lupe.
Wer wehrt sich gegen das Gesetz?
Verhandelt werden die Beschwerden der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und des Beamtenbunds dbb. Eine größere Rolle dürfte außerdem die Luftverkehrsbranche spielen, denn die Richter schauen sich auch die Klagen der Pilotenvereinigung Cockpit und der Flugbegleiter-Gewerkschaft Ufo näher an. Die anderen Kläger haben Beobachterstatus. Dazu gehören neben der GDL etwa die Fluglotsen-Gewerkschaft GdF und der Deutsche Journalisten-Verband.
Um welche Fragen dürfte es gehen?
Die Kläger berufen sich auf die grundgesetzlich geschützte Koalitionsfreiheit. Die Richter haben zu klären, ob das neue Gesetz hier womöglich zu stark eingreift. Der dbb bringt etwa vor, dass die kleinere Gewerkschaft von vornherein kaum noch eine Chance haben wird, für ihre Positionen Gehör zu finden. Und wer sich nicht durchsetzen kann, so die Argumentation, dem laufen die Mitglieder davon. Beispiel Rostocker Straßenbahn: Hier habe der Arbeitgeber gleich nur mit Verdi und gar nicht mehr mit der kleineren Nahverkehrsgewerkschaft verhandelt. Ein dort organisierter Fahrer, der mit in Karlsruhe klagt, sei dadurch „faktisch tariflos gestellt“.
Wie geht es nach der zweitägigen Verhandlung weiter?
Die Richter um den Senatsvorsitzenden Ferdinand Kirchhof werden dann im Geheimen beraten und das Urteil ausarbeiten. Bis zur Verkündung vergehen erfahrungsgemäß mindestens mehrere Monate. © dpa/may/aerzteblatt.de

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