Politik
Heil- und Hilfsmittelgesetz bringt zahlreiche Veränderungen
Donnerstag, 16. Februar 2017
Berlin – Qualitätsdefizite etwa bei der Versorgung von Patienten mit Inkontinenzprodukten hatten den Gesetzgeber auf den Plan gerufen. Nun hat der Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition und bei Enthaltung von Linken und Grünen das Heil- und Hilfsmittelgesetz beschlossen. Das Gesetz diente zugleich als Sammelsurium fachfremder Anträge, die mit Heil- und Hilfsmitteln nichts zu tun haben, die CDU und SPD aber noch vor der Wahl verabschieden wollten.
Mit der Reform erhalten Patienten bei Heil- und Hilfsmitteln künftig Wahlmöglichkeiten bei zuzahlungsfreien Mitteln. Bei Ausschreibungen im Hilfsmittelbereich müssen die Krankenkassen künftig bei ihren Vergabeentscheidungen neben dem Preis auch qualitative Anforderungen an die Produkte berücksichtigen, die über die Mindesterfordernisse hinausgehen. Für „Hilfsmittel mit hohem individuellen Anpassungsbedarf“ dürfen die Kassen keine Ausschreibungen mehr vornehmen. Anhand von Stichproben sollen sie zudem kontrollieren, ob die Leistungserbringer ihre gesetzlichen und vertraglichen Pflichten einhalten. Diese Neuregelungen sollen die Qualität der Hilfsmittelversorgung verbessern.
Heil- und Hilfsmittel: Was ist das?
Heilmittel sind medizinische Behandlungen, die von Vertragsärzten verordnet und von speziell ausgebildeten Therapeuten erbracht werden. Zu den Heilmitteln zählen die Anwendungen der Physiotherapie wie Krankengymnastik oder Wärmebehandlungen sowie der Logopädie bei Stimm-, Sprech-, und Sprachstörungen, der Ergotherapie bei Störungen der Motorik oder der Sinnesorgane und der podologischen Therapie bei Störungen an Füßen aufgrund einer Zuckererkrankung.
Hilfsmittel sind (technische) Gegenstände, mit denen gesundheitliche Defizite ausgeglichen werden sollen – von der Inkontinenzhilfe (Windeln, Katheder) über Prothesen bis hin zu Rollatoren und Rollstühlen.
Vorgesehen ist auch, dass Versicherte von den verordnenden Leistungserbringern und den Krankenkassen ausreichend beraten werden, welche Hilfsmittel, die die Krankenkassen übernehmen, für sie geeignet sind. Der GKV-Spitzenverband muss zudem bis Ende 2018 das Hilfsmittelverzeichnis grundlegend aktualisieren.
Ebenfalls mit der Reform verabschiedet wurde ein Modellprojekt zur Verordnung von Heilmitteln. Der Arzt verordnet demnach weiterhin die Leistung, allerdings in einer Art Blankoverordnung. Der Therapeut bestimmt Auswahl und Dauer der Therapie – wie zum Beispiel Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Podologie – sowie Häufigkeit der Behandlungseinheiten. Die Krankenkassen werden verpflichtet, mit den Verbänden der Heilmittelerbringer Verträge über solche Modellvorhaben abzuschließen. In jedem Bundesland soll es ein Modellvorhaben geben.
Brille auch für Erwachsene zulasten der Krankenkassen
Neu ist auch, dass die Ausnahmeregelung für einen Leistungsanspruch auf Brillengläser erweitert wird. Künftig erhalten auch Versicherte, die wegen einer Kurz- oder Weitsichtigkeit Gläser mit einer Brechkraft von mindestens sechs Dioptrien oder wegen einer Hornhautverkrümmung von mindestens vier Dioptrien benötigen, einen Anspruch auf Kostenübernahme in Höhe des vom GKV-Spitzenverband festgelegten Festbetrags beziehungsweise des von ihrer Krankenkasse vereinbarten Vertragspreises.
Nach derzeitiger Rechtslage werden die Kosten für Brillengläser nur für Kinder und Jugendliche übernommen. Volljährige Versicherte haben nur dann einen Leistungsanspruch, wenn sie auf beiden Augen eine extreme Sehschwäche aufweisen und ihre Sehleistung auf dem besseren Auge bei bestmöglicher Korrektur höchstens 30 Prozent erreicht.
Geregelt wurde auch, dass die Vergütungserhöhungen durch die Grundlohnsummenbindung für die Therapeuten für drei Jahre (2017 bis 2019) ausgesetzt werden. Krankenkassen und die Verbände der Heilmittelerbringer können damit freier über die Vergütung verhandeln. Gleichzeitig seien die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass steigende Vergütungen für Heilmittelleistungen auch den angestellten Therapeuten zugutekommen könnten, heißt es aus dem Ministerium.
Das Aus für ungerechtfertigte Zuzahlungen
„In einer älter werdenden Gesellschaft wird die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln immer wichtiger“, erklärte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Versicherte müssen die richtigen Hilfen erhalten, um ihren Alltag trotz Einschränkungen möglichst selbstbestimmt bewältigen zu können.
Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), verwies darauf, dass mit dem neuen Gesetz die Qualität der Hilfsmittelversorgung zu einem Kriterium dafür werde, welche Krankenkasse ein Versicherter wählt. Bei den Hilfsmittelausschreibungen der Krankenkassen werde künftig nicht mehr vorrangig der Preis, sondern vor allem die Qualität eine zentrale Rolle spielen müssen. Außerdem werde dem Geschäftsmodell ungerechtfertigter Zuzahlungen ein Riegel vorgeschoben.
Omnibus bringt auch Klarstellungen für Notärzte
Mit dem Heil- und Hilfsmittelgesetz sind zahlreiche weitere „mitfahrende“ Regelungen verbunden. Eine davon ist, dass Notärzte künftig unter bestimmten Bedingungen von der Sozialversicherungspflicht befreit sind. Die Regelung greift dann, wenn Ärzte ihre notärztliche Tätigkeit im Rettungsdienst neben einer Beschäftigung mit einem Mindestumfang von 15 Stunden wöchentlich außerhalb des Rettungsdienstes ausüben oder niedergelassen sind. Grund für die Korrektur waren Urteile, die eine Sozialversicherungspflicht von Notärzten ausmachten. In den Ländern war zuletzt die Sorge um die Sicherstellung der Versorgung groß.
Ebenfalls abstellen wollte der Gesetzgeber mit der Reform die Debatte um – möglicherweise – manipulierte Diagnosen, die für den Risikostrukturausgleich relevant sind. Dem wird nun grundsätzlich ein Riegel vorgeschoben: Der Bestandsschutz bei Betreuungsstrukturverträgen wird eingeschränkt. Zusätzliche Vergütungen für Diagnosen in Gesamt- und Selektivverträgen, nachträgliche Diagnoseübermittlung im Rahmen von Wirtschaftlichkeits- und Abrechnungsprüfungen sowie Kodierberatung durch die Krankenkassen werden verboten. Außerdem erhält das Bundesversicherungsamt bei der Durchführung des Risikostrukturausgleichs verbesserte Prüfmöglichkeiten.
Mit dem Omnibus wird auch eine Versorgungslücke beim Krankengeld zwischen dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses und dem Bezug von Arbeitslosengeld geschlossen. Mit dem Vorziehen des Beginns der Versicherungspflicht werde erreicht, dass künftig grundsätzlich bereits ab dem ersten Tag einer Sperrzeit oder einer Urlaubsabgeltung Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung bestehe und darüber ein Krankengeldanspruch hergeleitet werden könne, heißt es aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG).
Korrektur der Versicherungszeiten
Beseitigt wird nach Angaben des BMG zudem eine Benachteiligung von Kinder-erziehenden Ehegatten und Lebenspartnern bei der Berücksichtigung von Vorversicherungszeiten für die Krankenversicherung der Rentner (KVdR). Zukünftig können unabhängig von der Krankenversicherung des Ehe- und Lebenspartners jeweils pauschal drei Jahre pro Kind auf die Vorversicherungszeit für die KVdR angerechnet werden. Damit werde der Zugang zur KVdR für die Ehegatten und Lebenspartner verbessert, die in der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens die Erwerbstätigkeit wegen der Betreuung von Kindern unterbrochen haben und in dieser Zeit nicht gesetzlich krankenversichert waren, heißt es.
Hintergrund der Regelung ist, dass Personen mit Anspruch auf eine gesetzliche Rente nur dann Zugang zur KVdR haben, wenn sie seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens neun Zehntel der zweiten Hälfte des Zeitraums (Vorversicherungszeit) selbst Mitglied in GKV oder familienversichert waren. Dies kann zur Folge haben, dass wegen der Betreuung von Kindern diese Vorversicherungszeit nicht erfüllt wird, weil der betreuende Elternteil in dieser Zeit nicht gesetzlich krankenversichert war.
Dies hat in vielen Fällen insbesondere für Mütter zu Härten geführt, denn ihnen war es als Rentnerinnen dann nur möglich, sich in der GKV zu wesentlich ungünstigeren Bedingungen freiwillig zu versichern. „Durch die Neuregelung werden künftig viele der betroffenen Mütter die notwendigen Vorversicherungszeiten für die KVdR erfüllen und dadurch bei ihren Krankenversicherungsbeiträgen entlastet“, betonten die CDU-Parlamentarier Georg Nüßlein und Maria Michalk.
Privat krankenversicherte selbstständige Frauen werden zudem während der Schutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz künftig finanziell besser abgesichert. Durch Änderungen des Versicherungsvertragsgesetzes haben selbstständige Frauen, die eine private Krankentagegeldversicherung abgeschlossen haben, während der Mutterschutzfristen einen Anspruch auf Zahlung des vereinbarten Krankentagegeldes. Dann können Schwangere und Wöchnerinnen unabhängig von finanziellen Erwägungen entscheiden, ob und in welchem Ausmaß sie in dieser Zeit beruflich tätig sein wollen.
Mehr Flexibilität für Selbstständige
Eine weitere Änderung gab es für freiwillig versicherte Selbständige. Bisher mussten diese nach der Beitragsbemessung monatlich einen festen Krankenversicherungsbetrag leisten, unabhängig von ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Situation. Da das Einkommen Selbständiger starken Schwankungen unterworfen ist, führte das oftmals zu Überforderungen, letztlich zu Beitragsschulden. Die neue Regelung sieht vor, dass künftig Krankenversicherungsbeiträge auf der Grundlage des zuletzt erlassenen Einkommensteuerbescheids vorläufig festgesetzt werden.
Nach Vorlage des Einkommensteuerbescheids für das Kalenderjahr erfolgt die Beitragsfestsetzung rückwirkend entsprechend der tatsächlich erzielten beitragspflichtigen Einnahmen und die erneute vorläufige Festsetzung der Beiträge für die Zukunft. So kann es zu Nachzahlungen in die Krankenversicherung kommen, aber auch zu Erstattungen – je nach wirtschaftlicher Situation des Unternehmers. Diese Anpassung kann bis zu drei Jahre rückwirkend erfolgen.
„In meiner Bürgersprechstunde haben mich immer wieder Unternehmer auf den bestehenden ungerechten Sachverhalt aufmerksam gemacht, was zu intensiven Gesprächen in Berlin führte. Nach langen Verhandlungen ist es jetzt endlich gelungen, eine bessere Lösung zu beschließen“, sagte Michalk.
Lob und Kritik für das Gesetz
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung,chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen (BAG Selbsthilfe) sieht einen wichtigen Schritt getan. Nun komme es auf die Umsetzung an. „Denn nur dann profitieren chronisch kranke und behinderte Menschen auch tatsächlich davon“, mahnte Bundesgeschäftsführer Martin Danner.
Der Deutsche Hausärzteverband (DHÄV) betonte, es sei gut, dass der Gesetzgeber klarstelle, dass Krankenkassen keine zusätzliche Vergütung nur für das Kodieren, also für die Dokumentation von Erkrankungen, zahlen dürften. Der DHÄV-Bundesvorsitzende Ulrich Weigeldt betonte, er sehe keine Auswirkungen auf die Vollversorgungsverträge zur Hausarztzentrierten Versorgung nach § 73b SGB V. Bei diesen werde nicht die Dokumentation bestimmter Diagnosen vergütet, sondern der Betreuungsaufwand.
Der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) betonte, nach den wichtigen Anpassungen des Gesetzgebers seien nun „wirksame und bundeseinheitliche Regelungen für die Hilfsmittel-Vertragskontrollen durch die Krankenkassen vor Ort“ notwendig, wie BVMed-Geschäftsführer und Vorstandsmitglied Joachim M. Schmitt betonte. Der BVMed begrüßte vor allem, dass es für Hilfsmittel, die für einen bestimmten Versicherten individuell angefertigt werden, und Hilfsmittel-Versorgungen mit hohem Dienstleistungsanteil wie Stoma, ableitende Inkontinenz und Dekubitus, künftig keine Ausschreibungen mehr geben soll.
Auf Grundlage der Reform wird es dem Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV) zufolge „zu deutlichen Vergütungserhöhungen kommen“. „Die laufenden Gebührenverhandlungen zeigen, dass die Krankenkassen die Botschaft verstanden und Vorsorge in ihren Haushalten getroffen haben“, erklärte Geschäftsführer Heinz Christian Esser. © afp/dpa/may/aerzteblatt.de

Nachrichten zum Thema

Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.