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Politik

Experten fordern grundlegende Umgestaltung des Gesundheitswesens

Montag, 3. April 2017

/von Lieres, stock.adobe.com

Berlin – Verschiedene Experten schlagen in einem Positionspapier einen radikalen Um­bau des deutschen Gesundheitssystems vor, der in erster Linie eine Angleichung des stationären und des ambulanten Sektors beinhalten würde.

„Eine Defizitanalyse gibt es schon seit 40 Jahren: Das deutsche Gesundheitssystem orientiert sich an seiner eigenen System- und Abrechnungslogik und nicht am Patien­ten­wohl oder an Behand­lungspfaden“, erklärte Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) heute bei der Vorstellung des Papiers in Berlin. Sie ist eine der sie­ben Mitglieder der Expertengruppe, die das Positionspapier auf Initiative der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt haben. „An jeder Stelle erfolgt die Diagnostik neu“, fuhr sie fort, „der Informations­aus­tausch zwischen den Einrichtungen ist minimal, und eine Kontinuität der Behandlung ist nicht möglich.“

Die Bundesregierung habe in den vergangenen Jahren vielfach versucht, die Grenzen zwischen dem stationären und dem ambulanten Bereich zu öffnen. Das habe jedoch eher zu Streit zwischen den Akteuren um die jeweiligen Leistungen geführt. „Deshalb wollen wir keine neuen Modelle sektorübergreifender Versorgung. Wir wollen einen Über­gang vom Modell zur Norm“, sagte Prüfer-Storcks. „Das wird aber nur möglich sein, wenn wir ein neues Gesamtsystem etablieren. Wir brauchen eine einheitliche Sprache und ein­heitliche Spielregeln, sonst wird das nicht funktionieren.“

Bedarfsplanung über die ganze Versorgungskette

Der Vorschlag der Expertengruppe sieht unter anderem eine „sektorenübergreifende Be­darfsplanung über die ganze Versorgungskette“ vor, wie Prüfer-Storcks erklärte. Die Be­planung der hausärztlichen Grundversorgung solle sich dabei künftig an der Bevöl­ke­rungs­zahl orientieren und nicht mehr am Raum. Das bedeute auch eine kleinräumi­gere Bedarfsplanung von Haus- und Kinderärzten. Im Bereich der spezialärztlichen Versor­gung sollen dem Positionspapier zufolge der ambulante und der stationäre Bereich ge­meinsam beplant werden.

Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Goethe-Universi­tät in Frankfurt am Main und Mitautor des Positionspapiers, umriss die Defizite des heutigen Vergütungssystems. „Das jetzige System hat sehr starke Mengenanreize. Nur, wenn et­was gemacht wird, wird es auch bezahlt“, sagte er. „Die Qualität spielt dabei eine unter­ge­ordnete Rolle. Ob man gut oder schlecht behandelt: Man bekommt das gleiche Geld.“ Zudem gebe es so gut wie keine Kooperationsanreize.  

Mehr Pauschalen in der hausärztlichen Vergütung

In dem Positionspapier wird eine Dreiteilung der Honorierung von Hausärzten vorge­schla­gen: „eine kontaktunabhängige Koordinierungspauschale, also eine jährliche Pau­schale für jeden eingeschriebenen Patienten, dazu eine jährliche Behandlungs­pau­scha­le, die der Arzt für jeden Patienten bei mindestens einem Kontakt erhält, und Einzelleis­tun­gsvergütungen für förderungswürdige Leistungen wie Impfungen oder Haus­besuche“, so Gerlach. Dabei würden die Pauschalen etwa 80 Prozent der Vergütung ausmachen.

Die spezialisierte fachärztliche Versorgung solle „konsequent sektorenübergreifend ge­plant und finanziert werden“, erklärte Gerlach. „Für planbare Interventionen soll es eine integrierte Versorgungspauschale geben, für die Vorbereitung, die Durchführung und die Nachsorge.“ Die beteiligten Ärzte könnten sich untereinander verständigen, wie die Ar­beit und die Vergütung geteilt wird. Die Honorierung sei dabei nicht an den Ort der Leis­tungserbringung gebunden.

Von Stackelberg: „Schaffen Sie die KVen doch ab“

„Ich habe nichts dagegen, die Hausärzte pauschal zu vergüten“, kommentierte der stell­ver­tretende Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, Johann-Magnus von Sta­ckel­berg, in der anschließenden Podiumsdiskussion. Und die Vergütung der spezial­ärztli­chen Versorgung im ambulanten und stationären Bereich könne in Verhandlungen zwi­schen niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen vorgenommen wer­den. „Das ist ein Ausschreibungsmodell. Dafür habe ich hohe Sympathien“, sagte von Stackelberg. Damit hätten dann allerdings die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) nichts mehr zu tun. „Schaffen Sie die KVen doch ab“, schlug er vor.

„Das hätte zur Folge, dass der Sicherstellungsauftrag nicht mehr bei den KVen läge und dass die Ärzte wieder streiken dürften“, konterte der neue stellvertretende Vorstands­vor­sitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Stephan Hofmeister. „Das wäre ein Erd­beben im Gesundheitssystem mit Folgen, die keiner abschätzen könnte.“

„Wir sind nicht angetreten, die KVen abzuschaffen“, stellte Prüfer-Storcks klar. Das hie­ße, die Arbeit der KVen zu unterschätzen. „Ich als Landespolitikerin kann sagen: Ich möchte nicht übernehmen, was die KVen heute machen“, betonte sie. 

Quartalsweise Abrechnung nicht erforderlich und nicht nachvollziehbar

Gerlach kritisierte, dass im heutigen Gesundheitssystem quartalsweise abgerechnet wird. „Das ist nicht erforderlich, nicht nachvollziehbar und es erzeugt viele immanente Effekte, die wir für bedenklich halten“, betonte er. Denn dies setze den Anreiz, „dass Pa­tienten zweimal pro Quartal kommen: Beim ersten Mal erhält der Arzt die Ordinations­ge­bühr, beim zweiten Mal die Chronikerziffer.“ Danach lohne es sich für den Arzt nicht mehr, den Patienten zu sehen. Auch deshalb seien die Kontaktzahlen in Deutschland extrem hoch. „Die wieder einbestellten Patienten blockieren die Behand­lungskapazitäten der Ärzte für schwerer betroffene Patienten“, kritisierte Gerlach. „Das ist ein Problem. Wir haben genügend Ärzte und Praxen, aber dennoch gibt es verstopfte Praxen.“

Gerlach sprach auch die Lotsenfunktion von Hausärzten an. „Gerade für chronisch Kran­ke gibt es deutliche Steuerungsdefizite im System. Ein Patient mit fünf Krankheiten hat oft auch fünf Fachärzte, die ihn betreuen. Dabei ist nicht sichergestellt, dass eine Ab­stim­mung erfolgt.“ Es fehle in Deutschland ein Schutz vor zu viel Medizin. „Wir wollen, dass ein hausärztliches Grundversorgungsmodell zur Norm wird“, erklärte Gerlach.

„Je­der Patient wählt dabei regional eine Primär­versorgerpraxis, die die Koordi­na­tion über­nimmt. Alle Informationen sind in einer Hand zusammengeführt, zunächst für ein Jahr.“ Wenn der Patient nicht zufrieden sei, könne er danach wechseln. Die Konsultation an­de­rer Fachärzte solle in der Regel mit Überweisung stattfinden, ebenso wie ein Rückfluss der Informationen.

Keine radikalen Änderungen an hochwertigem System

„Wenn ich davon ausginge, das Gesundheitssystem sei schlecht, dann bräuchte es fun­damentale Umstellungen. Ich will aber keine plötzlichen radikalen Änderungen in einem hochwertigen System, das zugleich noch bezahlbar ist“, kommentierte Hofmeister das Po­sitionspapier. Das heiße allerdings nicht, dass es nicht dringenden Änderungs­bedarf in einzelnen Punkten gebe.

„Wir sehen unseren Vorschlag als evolutionär, nicht revolutionär“, erklärte Prüfer-Storcks abschließen. „Wir wollen etwas entwickeln, das Chancen auf eine Umsetzung hat“. Der SPD-Politikerin zufolge würde es etwa acht Jahre dauern, bis die Ideen aus dem Posi­ti­ons­papier umgesetzt sein können. „Bei einer möglichen Umsetzung müsste die Zahl der Kompromisse allerdings überschaubar bleiben“, betonte sie. „Man kann nicht ein­fach sa­gen: Wir nehmen einen Aspekt heraus. Denn dann macht es keinen Sinn mehr.“

Der Expertengruppe gehörten neben Prüfer-Storcks und Gerlach Volker Amelung, Vor­standsvorsitzender des Bundesverbandes Managed Care (BMC), Matthias Gruhl, Leiter des Gesundheitsamts Hamburg, Susanne Ozegowski, Geschäftsführerin des BMC, Doris Schaeffer, Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld, und Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer GEK, an.

Kritik von der Degemed

Die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation (Degemed) kritisiert den Vor­schlag, perspektivisch auch die Rehabilitation mit der Krankenhausversorgung zu pla­nen. „Damit wird die Eigenständigkeit medizinischer Rehabilitation gefährdet“, befürchtet Degemed-Geschäftsführer Christof Lawall. Die aktuell sehr effizient organisierten Reha­strukturen würden aufgeweicht und schrittweise durch ‚rehabilitative‘ Krankenhausbe­hand­lung verdrängt. „Viel wichtiger ist es aus unserer Sicht, die leistungsfähige Rehain­frastruktur in Deutschland zu erhalten und eigenständig weiter zu entwickeln“, sagte er. © fos/aerzteblatt.de

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