Vermischtes
Abgasskandal: Stickoxide verursachen in Europa fast 30.000 vorzeitige Todesfälle
Dienstag, 16. Mai 2017
Berlin – Autos, aber vor allem Lastwagen und Busse, stoßen weltweit 4,6 Millionen Tonnen mehr Stickstoffdioxid aus, als es die Standards erlauben. Allein aufgrund dieser Grenzüberschreitung sterben jährlich etwa 38.000 Menschen vorzeitig, 1.100 davon in den USA, heißt es in der Studie, die in Nature erschienen ist (2017; doi: 10.1038/nature22086). Den kausalen negativen Einfluss auf die Gesundheit stellt der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags zum Abgasskandal jedoch infrage und erntet damit Kritik einiger Epidemiologen und Toxikologen.
Mitverursacher der zusätzlichen vorzeitigen Todesfälle sind die inkonsistenten Messungen von Emissionen während der Testphase und auf den Straßen. Diese Messproblematik sei weit ernster als die im Dieselskandal 2015 resultierten Abgasdifferenzen, sagen die Autoren der Studie. Die Manipulationen des Volkswagenkonzerns hätten in den USA laut Studien zu einem Bruchteil der Todesfälle geführt, etwa 50 bis 100 pro Jahr.
Im Rahmen ihrer Auswertungen haben die Autoren um Susan Anenberg von Environmental Health Analytics in Washington 30 Fahrzeug-Emissions-Studien bewertet. Alle Studien wurden unter realen Bedingungen im Straßenverkehr durchgeführt und entsprachen 80 Prozent der 2015 verkauften neuen Dieselfahrzeugtypen der elf Hauptmärkte. Dazu zählen Australien, Brasilien, Canada, China, die Europäische Union, Indien, Japan, Mexiko, Russland, Südkorea und die USA.
Prognose 2040
Im Jahr 2040 rechnen die Studienautoren mit 183.600 vorzeitigen Todesfällen pro Jahr, falls die Regierungen nicht gegenlenken sollten.
Einfluss von Verbrennungsmotoren
- Insbesondere Dieselfahrzeuge stoßen eine Mischung von Stickoxiden NOx aus, vor allem aber NO und NO2
- NO2 und UV-Strahlung erhöhen im Zusammenspiel die Ozonkonzentration. Ozon und NO reagieren wiederum zu NO2.
- NOx wirkt sich direkt durch NO2 negativ auf die Gesundheit aus und indirekt über Feinstaub und Ozon.
Im Jahr 2015 lag die NOx-Emission von Dieselfahrzeugen demnach bei 13,1 Millionen Tonnen. Die Grenze war bereits mit 8,6 Millionen erreicht. Bei Menschen stehen diese Stickoxide unter anderem im Zusammenhang mit Herzerkrankungen, Schlaganfall und Lungenkrebs. Den größten gesundheitlichen Nachteil trägt die Bevölkerung in China. Hier schreiben die Autoren 31.400 jährliche Todesfälle der NOx-Emission von Dieselfahrzeugen zu. 10.700 Todesfälle davon gehen auf die Rechnung der grenzwertüberschreitenden Emissionen. In Europa sind es 28.500 Todesfälle und davon 11.500 verursacht durch überschrittene Grenzwerte aufgrund von Stickoxiden. Um Stickoxide von anderen Schadstoffen getrennt berechnen zu können nutzen die Forscher laut Anenberg das state-of-the-science atmospheric model namens GEOS-Chem. Emissionen von Kraftwerken oder der Industrie wurden in der Modellrechnung abgezogen. Angaben zur Luftqualität in den verschiedenen Ländern und Regionen fehlen ebenfalls. Dabei könnten aufgrund von Umweltzonen die tatsächliche Schadstoffbelastung regional variieren.
Abschlussbericht in der Kritik
Im Entwurf zum Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Dieselskandal, der in Kürze veröffentlicht werden soll, heißt es hingegen: „Epidemiologisch ist ein Zusammenhang zwischen Todesfällen und bestimmten NO2-Expositionen im Sinne einer adäquaten Kausalität nicht erwiesen.“ Des Weiteren steht hier zum Abgasskandal, dass wissenschaftliche Ergebnisse eine „gesicherte lineare Expositions-Wirkungs-Beziehung für Stickoxidemissionen und Erkrankungen oder Erhöhung der Sterblichkeit im Sinne einer robusten Zuweisung nicht zulassen“.
Die Hintergründe der Luftqualitätsrichtlinien sowohl für eine kurzfristige als auch für eine langfristige Belastung mit NO2 sind im Entwurf des Abschlussberichts falsch dargestellt.Bert Brunekreef, Institute for Risk Assessment Sciences, Universität Utrecht
Nicht alle Epidemiologen und Toxikologen halten diese Aussage für wissenschaftlich gerechtfertigt. Auch die Environmental Protection Agency (EPA) in den USA stuft in einem aktuellen Report von 2016 NO2 als kausal für respiratorische Kurzzeitwirkungen und als wahrscheinlich kausal für respiratorische Langzeitwirkungen ein. „Diese Einstufung basiert auf systematischer Erfassung der Evidenz, sowohl toxikologisch als auch epidemiologisch“, sagt Barbara Hoffmann vom Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. „Nach den Erkenntnissen der EPA besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen kurzfristigen NO2-Expositionen und respiratorischen Effekten, wie etwa Asthma-Exazerbationen, COPD-Exazerbationen, respiratorischen Infektionen und respiratorischer Mortalität.“
Auch Bert Brunekreef vom Institute for Risk Assessment Sciences an der Universität Utrecht ist überzeugt, dass der EPA-Report genügend Beweise für einen kausalen Zusammenhang zwischen kurzfristiger NO2-Exposition und Atemwegserkrankungen liefert: „Ich bin seit 1985 mit der Entwicklung der WHO-Luftqualitätsrichtlinien für NO2 und andere Luftschadstoffe beschäftigt. Die Hintergründe der Luftqualitätsrichtlinien sowohl für eine kurzfristige als auch für eine langfristige Belastung mit NO2 sind im Entwurf des Abschlussberichts falsch dargestellt.“
zum Thema
- Preview Nature Letter 2017
- Final Report EPA: Integrated Science Assessment (ISA) for Oxides of Nitrogen – Health Criteria, 2016.
- Quantifying the health impacts of ambient air pollutants, Int J Public Health. 2015
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Hingegen differenziert Dietrich Plaß vom Umweltbundesamt UBA in Dessau-Roßlau: „Epidemiologische Studien können keine Aussage zur Kausalität liefern, aber wichtige Hinweise auf Zusammenhänge.“ Dennoch könne die Krankheitslast infolge von NO2 berechnet werden, so wie es beispielsweise die Europäische Umweltbehörde EEA handhabt und die WHO empfiehlt. „Die Formulierung aus dem Entwurf des Abschlussberichtes des Untersuchungsausschusses wäre daher aus Sicht des UBA korrekt, wenn sie ergänzt würde durch ‚… zwar nicht erwiesen, weil dies methodisch nicht möglich ist, aber als sehr naheliegend zu beurteilen’.“ Einzelstudien und Berichte wie REVIHAAP würden berechtigte Hinweise einer eigenständigen NO2-Wirkung auf die Gesundheit liefern, erklärt Plaß. „Ohne wissenschaftlich fundierte Hinweise auf diese Zusammenhänge wären die gesetzlich einzuhaltenden EU-weiten Grenzwerte nicht zustande gekommen“, ist er überzeugt.
Die WHO empfiehlt in ihrem Bericht HRAPIE zum Beispiel für Berechnungen zur Gesamtmortalität eine lineare Exposition-Wirkung-Funktion.Dietrich Plaß, Umweltbundesamt UBA, Dessau-Roßlau
Auch die Aussage des Abschlussberichts zur Expositions-Wirkungs-Funktion EWF muss seiner Meinung nach hinterfragt werden: „Neueste Untersuchungen der EWF zeigen, dass der Verlauf nur in bestimmten Konzentrationsbereichen von Feinstaub PM2,5 linear ansteigt.“ Zudem seien die EWF je nach Erkrankung unterschiedlich. Für die Konzentrationsbereiche, die in Deutschland üblich sind, könne von einem linearen Zusammenhang gesprochen werden. „Die WHO empfiehlt in ihrem Bericht HRAPIE zum Beispiel für Berechnungen zur Gesamtmortalität eine lineare EWF. Es zeigt sich aber, ähnlich wie beim Feinstaub, dass die Unsicherheit zum Beispiel unterhalb von 20 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft höher ist als im Vergleich zu höheren Konzentrationsbereichen. Nichtsdestotrotz wird nach derzeitigem Stand der Forschung eine lineare EWF angenommen.“ © gie/aerzteblatt.de

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