Politik
Wenig Evidenz für medizinisches Cannabis, vielfältige Risiken beim Freizeitkonsum
Dienstag, 28. November 2017
Berlin – Welche Evidenz gibt es für den Nutzen von Cannabinoiden zum medizinischen Gebrauch? Welche Risiken hat Cannabis als Freizeitkonsum? Die heute vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) offiziell veröffentliche Studie „Cannabis: Potential und Risiken. Eine wissenschaftliche Analyse (CaPRis)“ fasst den aktuellen Forschungsstand zum Thema Cannabis in einer Metaanalyse zusammen. Gefördert wurde die Studie vom BMG, das sich von den Ergebnissen mehr Klarheit in den aktuellen Debatten zum Thema Cannabis verspricht.
Für die Analyse haben Eva Hoch, Privatdozentin am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München, und Miriam Schneider, Privatdozentin am Institut für Entwicklungspsychologie und Biologische Psychologie der Universität Heidelberg, mit ihrer Forschergruppe und 30 nationalen und internationalen Experten mehr als 2.000 wissenschaftliche Studien ausgewertet.
„Die Studie baut auf den neuesten Erkenntnissen zum menschlichen Endocannabinoidsystem auf. In Bezug auf die medizinische Anwendung von Cannabinoiden haben wir die Frage gestellt, wie wirksam und sicher sie in der Behandlung von körperlichen und psychischen Erkrankungen sind“, sagte Eva Hoch bereits gestern vor Suchtmedizinern, die sich bei der Bundesärztekammer zu einem Erfahrungsaustausch trafen. Sie gab dort einen Überblick zu den einzelnen Erkrankungen.
Chronische Schmerzen
- Für eine substanzielle Evidenz zur Schmerzreduktion durch Cannabisarzneimittel um mindestens 50 Prozent fand sich keine Evidenz, wenngleich die Wirksamkeit häufig untersucht wurde. Die Evidenz für eine leichte Schmerzreduktion und Verbesserungen im Sekundärbereich im Vergleich zu Placebo ist gut. Cannabisarzneimittel wurden in der Regel in Kombination mit Analgetika verabreicht.
Spastizität bei Multipler Sklerose und Paraplegie
- Für die Wirksamkeit von Cannabisarzneimitteln fand sich keine ausreichende Evidenz mit objektivierbaren Prüfkriterien. Für eine subjektiv empfundene Wirkung der Mittel liegen inkonsistente Belege vor.
Übelkeit und Erbrechen (chemotherapeutisch induziert)
- Cannabisarzneimittel zeigten in methodisch unzureichenden alten Studien eine signifikant bessere antiemetische Wirkung im Vergleich zu Placebo und konventionellen Antiemetika.
Gastrointestinale, neuroinflammatorische, neurodegenerative und neurologische Erkrankungen
- Es fand sich keine Verbesserung der primären Beschwerden durch Cannabisarzneimittel.
Psychische Erkrankungen
- Es liegen nur einzelne randomisiert-kontrollierte Studien zu Demenz, Cannabisabhängigkeit, Opiatabhängigkeit, Schizophrenie, Sozialer Phobie, Posttraumatischen Belastungsstörungen, Anorexia Nervosa und Tourette-Syndrom vor. Die Stichprobengrößen sind stets gering. Aufgrund der begrenzten Datenlage können noch keine Aussagen zur Wirksamkeit von Cannabisarzneimitteln getroffen werden.
„Wir brauchen hochwertige multizentrische Studien zur Wirksamkeit von Cannabisarzneimitteln, um valide Aussagen zum therapeutischen Potenzial von Cannabisarzneimitteln treffen zu können“, erklärte Studienleiterin Hoch. Insbesondere fehlten Informationen zur Dauer der Behandlung. Die in jüngster Zeit international intensivierte Forschung könnte demnächst zu einer verbesserten Datenlage beitragen, sagte sie.
„Wir wissen noch viel zu wenig darüber, ob und wie Arzneimittel auf Cannabis-Basis wirken. Die Studienlage hierzu ist deutlich schwächer, als in der Öffentlichkeit allgemein angenommen wird“, sagte Josef Mischo, Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Sucht und Drogen“ der Bundesärztekammer (BÄK). Er betonte, es müsse auf Grundlage von wissenschaftlichen Studien sehr genau geprüft werden, ob Cannabis tatsächlich eine therapeutische Alternative sein könne.
„Gerade angesichts der großen Hoffnungen, die viele Patienten in Cannabis-Therapien setzen, müssen wir unvoreingenommen Chancen und Risiken offenlegen, auch und gerade im Vergleich mit herkömmlichen Therapien“, sagte er. „Cannabis zum medizinischen Einsatz hat nicht die Evidenz, die man sich politisch wünscht“, betonte auch Erik Bodendieck, neben Josef Mischo Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Sucht und Drogen“ der BÄK. Sein Appell an die Ärzte: „Lasst lieber die Finger davon.“
Darüber hinaus stellte die CaPRIs-Studie die Frage, welche Risiken mit dem Freizeitkonsum von Cannabis verbunden sind. Mit mehr als 100.000 untersuchten Studien ist die Datenlage im Vergleich zur medizinischen Anwendung gut. Die organischen Folgen: Regelmäßiger und chronischer Cannabiskonsum führt zu globalen Defiziten der Kognition, insbesondere der Gedächtnisleistung. Diese Funktionsdefizite scheinen bei Abstinenz vorüberzugehen. Cannabis birgt zudem ein erhöhtes Risiko für respiratorische Symptome und geht mit kardiovaskulären Risiken einher, wie Erweiterung der Blutgefäße, Bluthochdruck und beschleunigter Puls. Es gibt einen signifikanten Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und Hodenkrebs, insbesondere für Mischtumore.
Früher Cannabiskonsum ist mit geringerem Bildungserfolg assoziiert
Die psychischen und psychosozialen Folgen: Das Risiko für Angststörungen und Depressivität ist leicht erhöht. Ein Neuauftreten bipolarer Störungen steigt durch Cannabiskonsum um den Faktor drei. Das Risiko für psychotische Störungen kann sich durch Cannabiskonsum erhöhen. Der Zeitpunkt einer Ersterkrankung ist um 2,7 Jahre gegenüber Nichtkonsumierenden vorverlagert. Patienten mit psychotischen Störungen konsumieren häufiger Cannabis: Dies ist mit ungünstigen Verläufen verbunden. Darüber hinaus sind der Beginn von Cannabiskonsum vor dem 15. Lebensjahr und häufiger Konsum in der frühen Adoleszenz mit geringerem Bildungserfolg assoziiert.
Studienleiterin Hoch wies darauf hin, dass international noch Datenlücken bestehen, wie zum Beispiel im Bereich der Abhängigkeitsentwicklung und psychosozialen Folgen. Methodisch belastbare Daten seien dringend gefordert, insbesondere auch, um das Gefährdungspotenzial durch hochpotente Cannabinoide besser abschätzen zu können, da der THC-Anteil in Cannabis immer mehr zunehme. Darüber hinaus hob sie die Risiken der synthetischen Cannabinoide hervor. Durch ihre potenzierte pharmakologische Wirksamkeit können starke und unvorhersehbare Effekte auftreten, die zu intensivmedizinischer Versorgung und Todesfällen geführt haben.
„In der öffentlichen Debatte werden die Folgen des Konsums zu Rauschzwecken von Cannabis häufig verharmlost. Die Möglichkeiten des medizinischen Einsatzes sind bisher auf bestimmte Indikationen begrenzt. In beiden Bereichen ist mir an einer klaren und realistischen Sicht der Dinge gelegen“, sagte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, anlässlich der Veröffentlichung der CaPRIS-Studie. Wir müssen auf jeden Fall intensiver über die Gefahren des Cannabiskonsums aufklären und die medizinische Versorgung cannabisabhängiger Menschen verbessern.“
Ausführlich werden die Ergebnisse der CaPRIS-Studie auf der Internetseite des BMG dargestellt: www.bundesgesundheitsministerium.de/CaPRis. Die gesamte Studie, mit detaillierter Aufstellung und Diskussion der Ergebnisse, umfasst rund 500 Seiten und wird demnächst in einem wissenschaftlichen Verlag veröffentlicht. © PB/aerzteblatt.de

randomisierte Doppelblindstudien, Fallstudien - Monopräparate, Cannabisblüten

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