Medizin
Psychiatrie: Flüchtlingstrauma kann auf die nächste Generation übertragen werden
Freitag, 1. Dezember 2017
Uppsala – Die psychischen Belastungen, denen Kinder durch Krieg und Flucht ausgesetzt sind, können noch in der nachfolgenden Generation ihre Spuren hinterlassen. Eine Studie in JAMA Psychiatry (2017; doi: 10.1001/jamapsychiatry.2017.3511) zeigt, dass die Töchter von finnischen Müttern, die als Kind im zweiten Weltkrieg vorübergehend in schwedische Pflegefamilien gegeben wurden, ein erhöhtes Risiko auf Depressionen und andere affektive Störungen haben. Bei Jungen wurde keine erhöhte Morbidität gefunden.
In den Jahren 1941 bis 1945 wurden rund 49.000 finnische Kinder nach Schweden evakuiert, um sie vor Bombenangriffen, Unterernährung und anderen Gefahren während des Krieges mit der Sowjetunion zu schützen. Die Kinder, viele von ihnen im Vorschulalter, wurden bei Pflegefamilien untergebracht. Sie waren dort nicht nur von ihren Eltern getrennt, sie mussten auch eine fremde Sprache lernen und nach ihrer Rückkehr mussten sie sich wieder in Finnland zurechtfinden, oft in einer neuen Heimat. Viele Kinder stammten aus Karelien, das inzwischen von der Sowjetunion annektiert worden war.
Torsten Santavirta von der Universität Uppsala und Mitarbeiter sind dem Schicksal der Evakuierten nachgegangen. Sie beschränkten die Untersuchung auf Familien, die nur einzelne Kinder zu schwedischen Pflegeeltern gegeben hatten, ein anderes Geschwisterkind aber behielten (über die Beweggründe ist wenig bekannt). Der Vergleich innerhalb einer Familie vermeidet viele Verzerrungen, die sich aus der Auswahl bestimmter Familien für die Evakuierungsprogramme ergeben haben könnten.
In einer früheren Studie hatte das Team herausgefunden, dass die nach Schweden evakuierten Mädchen später im Erwachsenenalter häufiger wegen Depressionen und anderen affektiven Störungen hospitalisiert wurden als ihre Geschwister, die zu Hause geblieben waren (Hazard Ratio 2,19; 95-Prozent-Konfidenzintervall 1,10 bis 4,33). Für die Jungen konnte eine solche Assoziation nicht hergestellt werden (BMJ 2014; 350: g7753).
Jetzt haben die Forscher die nächste Generation, also die Söhne und Töchter der Kriegskinder, verglichen. Auch hier ließ sich eine erhöhte Rate von psychiatrischen Erkrankungen nachweisen. Sie waren wieder auf affektive Störungen beschränkt, und erneut waren nur die Töchter betroffen. Die Hazard Ratio war mit 4,68 (1,92–11,42) sogar größer als in der Generation ihrer Mütter.
Über die Gründe für das erhöhte Risiko in der zweiten Generation können die Forscher nur spekulieren. Eine Möglichkeit ist, dass die Belastungen und Erfahrungen während der Evakuierung den Erziehungsstil der späteren Mütter beeinflusst haben. Es ist aber auch vorstellbar, dass der psychische Stress während der Evakuierung zu epigenetischen Veränderungen am Erbgut geführt hat.
Solche Veränderungen wurden in einer anderen Untersuchung bei den Kindern von Holocaust-Überlebenden gefunden. Diese hatten eine veränderte Methylierung am Gen FKBP5 an ihre Kinder weitervererbt. Eine Beteiligung des FKBP5-Gens ist biologisch plausibel, weil das dort kodierte Protein „FK506 binding protein 5“ an Stressreaktionen beteiligt ist und mit posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und Angstzuständen in Verbindung gebracht wird (Biological Psychiatry 2016; 80: 372–380).
Andere Untersuchungen haben ergeben, dass eine Unterernährung während der Schwangerschaft bei den Kindern zu psychiatrischen Erkrankungen führen kann. Diese Erfahrungen wurden in den Niederlanden bei Kindern gemacht, deren Mütter den Hungerwinter 1944/45 erlebt hatten (die deutschen Besatzer hatten im letzten Kriegsjahr die Zufuhr von Brennstoffen und Nahrungsmitteln blockiert). Die Kinder erkrankten später häufiger an Schizophrenien. In China kam es zu einem Anstieg von psychiatrischen Erkrankungen in den Geburtsjahrgängen nach dem „Großen Sprung nach vorn“, der eine Nahrungsmittelknappheit ausgelöst hatte. Tierexperimentelle Studien in Translational Psychiatry (2017; 7: e1229) haben diese Beobachtungen jüngst auf epigenetische Veränderungen zurückgeführt.
Überraschend ist, dass der kurze Aufenthalt der finnischen Kinder in Schweden, der nur 2 Jahre dauerte und soweit bekannt nicht mit Hunger oder Misshandlungen verbunden war, einen so großen Einfluss auf die Psyche der Mädchen (und ihrer Töchter) hatte. Für Santavirta zeigt dies, dass Schutzprogramme, die Kinder häufig aus Familien herausnehmen und Pflegeeltern geben, sorgfältig evaluiert werden sollten. © rme/aerzteblatt.de

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