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Politik

Medizinischer Fortschritt ist eng mit Grundversorgung verknüpft

Freitag, 2. Februar 2018

/sudok1, stockadobecom

Berlin – Die Wirkungen des medizinischen Fortschritts sind hierzulande für die Menschen unübersehbar: In den vergangenen Jahrzehnten trug er wesentlich zu einer deutlich gestiegenen Lebenserwartung und -qualität bei. Darauf hat Jörg Hacker, Präsident der Leopoldina, anlässlich eines Fachgesprächs der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Berlin hingewiesen.

Experten tauschten sich über die Frage „Wie kommt der Patient zum medizinischen Fortschritt?“ aus. Der Begriff des „medizinischen Fortschritts“ wecke positive Assoziationen, sagte Hacker. Neben der erfolgreich angewandten medizinischen Forschung müsse er jedoch gleichzeitig den Bedürfnissen der Patienten in den verschiedenen Lebenszusammenhängen entsprechen. 

Grundversorgung im Auge behalten

Dabei sei es insbesondere wichtig, neben dem medizinischen Fortschritt auch die Grundversorgung im Auge zu behalten, betonte die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert, Münster. „Es ist sicher sexy, auf neue Methoden zu schauen, dabei dürfen wir aber beispielsweise die Augen nicht vor dem Pflegenotstand verschließen.“

„Einerseits fördern wir den medizinischen Fortschritt, andererseits sind viele Patienten in kleinen Krankenhäusern auch weit von einer Teilhabe davon entfernt“, warnte der Gesundheitsökonom Reinhard Busse, Berlin. Deutschland sei ein „fortschrittsgläubiges Land“. Medizinischer Fortschritt werde häufig vergütet, obwohl der tatsächliche Nutzen einiger im stationären Bereich eingesetzten Methoden gar nicht nachgewiesen sei.

Kliniken erhalten oder schließen

Busse empfahl, kleinere Krankenhäuser zu schließen und lediglich an größeren Kliniken neue und differenzierte Methoden und Behandlungsverfahren einzusetzen und dort auch den medizinischen Fortschritt voranzutreiben.

Dem widersprach Heyo Kroemer, Universität Göttingen und Präsident des Medizinischen Fakultätentages. „Die Versorgungsproblematik in der Fläche ist komplex. Fest steht: Die Bevölkerung muss auch vor Ort stationär versorgt werden können“, sagt er. Sei ein Konzentrationsprozess gewollt, müsse dieser politisch begleitet werden. „Aber die Politik hält sich komplett raus.“

Um den medizinischen Fortschritt zum Patienten zu bringen, müsse man sich verstärkt für die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung einsetzen, ist Kroemer überzeugt. „Die Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts werden ganz wesentlich durch die Informationstechnologie bestimmt, und die Digitalisierung spielt dabei eine große Rolle“, sagte er.

Problemfeld Digitalisierung

Bezüglich der Basisdigitalisierung sei Deutschland jedoch noch immer ein Entwick­lungs­­land, beklagte Kroemer. Es werde wenig über die Sektorengrenzen hinaus kommuniziert. Der Informationsaustausch des stationären Bereichs mit niederge­lassenen Ärzten müsse deutlich verbessert werden, forderte er. Wenn heute ein Patient in einer Klinik behandelt werde, gehe er immer noch mit einem Arztbrief in der Tasche aus dem Krankenhaus.

„Das ist etwa vergleichbar mit der Situation, wenn man mit einer Pferdekutsche von Göttingen nach Berlin fährt, statt den ICE zu nehmen“, sagte er. Dadurch würden die Möglichkeiten einer Vermeidung von Doppeluntersuchungen sowie eines Erkenntnis­gewinns beispielsweise bei seltenen Erkrankungen verschenkt. Abhilfe kann nach seiner Ansicht die Ende 2015 gestartete Medizininformatikinitiative des Bundes­forschungsministeriums schaffen.

Davor, allein den medizinischen Fortschritt ins Auge zu fassen und das Vertrauens­verhältnis von Arzt und Patient zu vernachlässigen, warnte Annette Grüters-Kieslich, Universität Heidelberg. „Die neuen Technologien verändern den Arztberuf. Einige Ärzte machen nur noch eine laborwertorientierte Medizin“, bedauerte sie. Es sei immer eine Gratwanderung, etwas Sinnvolles zu empfehlen und den Fortschritt sinnhaft an den Menschen heranzubringen. „Ärzte müssen zuhören und ihre Patienten verstehen und dann die beste Entscheidung treffen“, sagte die Kinderärztin.

Der Geriater Cornel Sieber kritisierte, dass die deutsche Medizin hauptsächlich defizitär geprägt sei. Trete ein Symptom auf, müsse dieses behoben werden. „In der Geriatrie geht es jedoch um Syndrome. Die Patienten erwarten, dass das akute Problem in ihre Multimorbidität eingebettet wird“, sagte er. Sich rasant entwickelnde Technologien böten dabei Hilfe.

„Der rasche Anstieg betagter und hochbetagter Menschen ist eine große Errungen­schaft der letzten Jahrzehnte“, sagte Sieber. Ziel des medizinischen Fortschritts dürfe nämlich nicht nur eine alleinige Verlängerung der Überlebenszeit sein, sondern Anstrengungen, die die Menschen befähigten, die noch verbleibende Lebenszeit in möglichst guter Funktionalität und damit selbständig zu genießen.

Krebs bleibt große Herausforderung

Auch die Behandlung von Krebs sei unverändert eine der größten Herausforderungen der Medizin, betonte Michael Hallek, Direktor des Centrum für Integrierte Onkologie (CIO) der Universitätsklinika Köln/Bonn. Trotz des medizinischen Fortschritts würden heute noch viele aller neu diagnostizierten Krebspatienten an dieser Erkrankung auch versterben.

Gleichzeitig wachse wegen der steigenden Zahl der Krebsneuerkrankungen die Sorge, dass die zahlreichen Innovationen der Krebsmedizin das Gesundheitssystem finanziell überfordern. „Krebs ist heute nicht eine Krankheit, sondern besteht aus Hunderten unterschiedlicher, genetisch definierter Erkrankungen“, erklärte der Onkologe. Proble­matisch sei, dass seltene Erkrankungen von der Pharmaindustrie kaum beforscht würden.

Seltene Erkrankungen nicht vergessen

Viele Menschen – etwa vier Millionen in Deutschland – hätten eine seltene Erkran­kung und häufig keine Diagnose, bestätigte die Dermatologin Leena Bruckner-Tudermann, Freiburg. Die Pharmaindustrie forsche nicht auf diesen Gebieten, da dies nicht lukrativ sei, sagte sie. „Der medizinische Fortschritt wird ökonomisch behindert“, bedauerte auch der Internist Jürgen Schölmerich, Frankfurt am Main. In der Forschung gebe es noch viele Defizite, beispielsweise würden Randgruppen, wie Hochbetagte oder Minderjährige, nur selten in die Studien einbezogen. Gleiches gelte aber auch für Frauen generell.

Die These, dass der medizinische Fortschritt teilweise auch zu schnell käme, vertrat der Medizinethiker Urban Wiesing, Universität Tübingen. Die Industrie habe ein starkes Interesse an Patenten. Dies bringe Fehlanreize mit sich. „Teilweise wird der medizinische Fortschritt künstlich beschleunigt. Erst hinterher wird klar, dass die Methode doch nicht gut für den Patienten war.“

Zehn Jahre Leopoldina

Die Diskussion um den medizinischen Fortschritt war die erste große Veranstaltung der Leopoldina in diesem Jahr, in dem die Deutsche Akademie der Naturforscher ihr zehntes Jahr als Nationale Akademie der Wissenschaften begeht. Am 14. Juli 2008 wurde die 1652 gegründete Akademie von der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz des Bundes und der Länder zur Nationalakademie ernannt und übernahm die Aufgabe als wissenschaftliche Beraterin von Politik und Gesellschaft.

Mitglieder der Leopoldina sind renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland, die bislang gemeinsam mehr als 130 Stellungnahmen, Empfehlungen und Diskussionspapiere in den letzten zehn Jahren vorlegten.

Im medizinischen Bereich gehören dazu die Stellungnahme zur Präimplantations­diagnostik (PID) in Deutschland (2011) sowie zur Praxis und Forschung in der Palliativversorgung (2015). Die Anwendung neuer Verfahren zur Veränderung des Erbguts werden seit der Stellungnahme über Chancen und Grenzen des Genome Editing (2015) anhaltend in Veranstaltungen und Veröffentlichungen diskutiert. © ER/aerzteblatt.de

Kommentare

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Avatar #106067
dr.med.thomas.g.schaetzler
am Sonntag, 4. Februar 2018, 18:51

Leopoldina gegen den Gesundheits-Hype?

Wie erfreulich, dass sich die Leopoldina mit den Themenkomplexen Krankheit, Chronizität, Behinderung, Krankheitswesen, Krankheitsbewältigung in Klinik und Praxis bzw. Krankheitsfolgen bei aller kontroversen Positionierung intensiv auseinandersetzt.

Denn Medien, Öffentlichkeit, Politik und alle ernstzunehmenden politischen Parteien hängen immer noch an dem ewigen Mantra von völliger Gesundheit, Wohlbefinden, permanenter Abwesenheit von Schmerz, Leid, Krankheit, Anstrengung und jeglicher Art von bio-psycho-sozialer Deprivation getreu einer antiquiert-deplatzierten WHO-Gesundheitsdefinition. Der Versuch, alle bio-psycho-sozialen Probleme gesundbeten zu wollen, leugnet Krankheit, Behinderung, Siechtum und körperliche bzw. psychische Beschädigungen als integral-vitale, schwierige und zugleich bereichernde Lebensäußerungen bei unseren Patientinnen und Patienten: Bei Schwangerschaft, Geburt, Säuglingsentwicklung, Kindheit, Jugend, Adoleszenz, Erwachsensein, Alterung, regressiver Involution; bei Leben, Glück, Pech, Vergänglichkeit und Tod!

Wir brauchen dagegen ein auch für Laien verständliches, informationstechnologisch angemessenes, strukturiertes Konzept mit abgestuften Versorgungs- und Bewältigungs-Strategien:

1. Kinder-, Jugend-, Erwachsenenbildung mit präformiertem medizinischer Laienwissen
2. Lotsenfunktion/Koordination durch Haus- und Familienärzte als "Primär-Versorgungs-Arzt/-Ärztin"
3. Niedrigschwellige allgemeinärztlich-internistisch-pädiatrische Grundversorgung
4. Gezielte fachärztliche, spezialmedizinische, ambulante Fachversorgung
5. ambulante/stationäre/abgestuften Diagnostik mit Anamnese, Untersuchung, Differenzialdiagnostik, Diagnose, Therapie, Palliation
6. Therapie/Versorgung/Heilung/Linderung Beschwerde-, Situations- und Krankheits-adaptiert vom Kreiskrankenhaus bis zur Uniklinik.

Konzeptionsloses Aussitzen, Verdrängen, Verschieben, Luftschlösser, Ausreden, Ersatzhandlungen und um den heißen Brei herumreden machen schon genug Andere!

Mf + kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund
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