Politik
Fast die Hälfte der Deutschen toleriert Arzneimittelmissbrauch
Mittwoch, 7. März 2018
Berlin – Der Missbrauch von Arzneimitteln wird fast von der Hälfte der Menschen in Deutschland (43 Prozent) akzeptiert. 17 Prozent haben verschreibungspflichtige Arzneimittel schon einmal ohne medizinische Notwendigkeit zur Verbesserung ihres Wohlbefindens eingenommen. Für weitere 26 Prozent wäre das akzeptabel.
Das sind Ergebnisse einer neuen repräsentativen Onlineumfrage des Meinungsforschungsinstituts forsa, die heute bei dem Symposium der Bundesapothekenkammer (BAK) „Arzneimittelmissbrauch – Fakten und Herausforderungen“ in Berlin vorgestellt wurde. Befragt wurden 5.000 Bundesbürger zwischen 16 und 70 Jahren.
Von Arzneimittelmissbrauch betroffen sind nach einem Faktenblatt der Bundesvereinigung der Apothekerverbände (ABDA) in Deutschland circa 1,4 bis 1,5 Millionen Menschen. Von Missbrauch wird dann gesprochen, wenn eine Substanz nicht mehr bestimmungsgemäß eingenommen wird, und der Konsum trotz psychischer, körperlicher oder sozialer Folgen anhält.
Arzneimittelabhängigkeit steht auf Platz zwei aller Abhängigkeiten nach Tabak, aber noch vor Alkohol. Etwa 4 bis 5 Prozent aller verordneten Arzneimittel wird ein Missbrauchs- oder Abhängigkeitspotenzial zugeschrieben.
Wichtige Gruppen missbräuchlich verwendeter Arzneimittel sind:
- Benzodiazepine und Z-Substanzen (am häufigsten verwendet)
- Opiate/Opioide inklusive Dextromethorphan
- medizinisches Cannabis
- Abführmittel
- rezeptfreie Schmerzmittel
- Nasentropfen und -sprays
- Stimulanzien
- rezeptfreie Schlafmittel mit Doxylamin oder Diphenhydramin.
„Es ist erschreckend, dass immer mehr Menschen Medikamente außerhalb der zugelassenen Indikation einnehmen“, sagte der Präsident der BAK, Andreas Kiefer. Die Rezeptpflicht sei grundsätzlich „ein Schutzraum, um Risiken zu minimieren“. Die Rolle der Ärzte und Apotheker, Patienten über die Risiken aufzuklären, sei wichtiger denn je, um der „Trivialisierung von Arzneimitteln entgegenzuwirken“.
Steigerung der Leistungsfähigkeit
Gründe für die Einnahme rezeptpflichtiger Medikamente sind der forsa-Umfrage zufolge die Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit (45 Prozent) beispielsweise vor Prüfungen oder wichtigen beruflichen Gesprächen sowie die Reduzierung von Nervosität und Angst oder Stimmungsverbesserung (40 Prozent).
Etwas weniger (27 Prozent) werden Medikamente zur Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit bei beruflichen Herausforderungen eingesetzt, um das Aussehen zu verbessern oder damit Sport leichter fällt (zum Beispiel Schmerzmittel beim Marathonlauf).
Jeder Zehnte (11 Prozent), der bereits rezeptpflichtige Medikamente missbräuchlich eingenommen hat, beschaffte sie sich der Umfrage zufolge illegal über das Internet.
Darauf, dass es auch andere Wege gibt, an rezeptpflichtige Arzneimittel zu gelangen, wies Martin Schulz, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker hin: „Rund 40 Prozent aller Benzodiazepine und Z-Substanzen, wie Zolpidem oder Zoplicon, werden auf Privatrezept verordnet.“ Apotheker sollten beim Verschreiben eines „kritischen“ Arzneimittels auf Privatrezept oder durch verschiedene wohnortferne Ärzte für denselben Patienten aufpassen. „Bei begründetem Verdacht auf Missbrauch können Apotheker die Abgabe verweigern“, betonte Schulz.
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Weitere Möglichkeiten, um an rezeptpflichtige Medikamente zu gelangen, sind dem Arzneimittelkommissionsvorsitzenden zufolge Rezeptfälschungen, die Manipulation von Arzneimitteln wie die Reklamation von Minderfüllung nach vorheriger Entnahme flüssiger Opioide sowie andere Tricks wie vermeintlicher Rezeptverlust.
Opioidverordnungen fast auf US-amerikanischem Niveau
In den USA sind die Todesfälle durch Überdosierung von Opioiden zwischen 2000 und 2016 enorm angestiegen. „Auch in Deutschland steigen die Opioidverordnungen an und liegen in Relation fast so hoch wie in den USA“, berichtete Christoph Stein, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin der Charité Berlin. Verordnet würden insbesondere Fentanyl und Tramadol.
Opioide werden Stein zufolge überwiegend für chronische Nichttumorschmerzen verschrieben, besonders für Rückenschmerzen, obwohl sie hierfür keine signifikante Linderung bewirkten. „Doch gerade Patienten mit chronischem Schmerz entwickeln häufig eine Suchtproblematik“, betonte Stein, obwohl das häufig anders dargestellt werde. Eine Alternative zu den Opioiden sei eine interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen, physikalischen und soziotherapeutischen Elementen. © PB/aerzteblatt.de

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