Politik
„Der Mangel an Intensivpflegekräften hat Auswirkungen auf die Versorgung“
Donnerstag, 15. März 2018
Tübingen – Der Intensivmedizin in Deutschland geht es nicht gut. Es gibt zu wenige Intensivpflegekräfte auf den Stationen. In der Folge müssen die Krankenhäuser Intensivbetten sperren. Reimer Riessen (53), Leiter der Internistischen Intensivstation am Universitätsklinikum Tübingen, erklärt im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt, welche Ursachen der Mangel an Intensivpflegekräften hat, warum Pflegepersonaluntergrenzen das Problem nicht lösen werden und welche Rolle Therapiebegrenzungen in der Intensivmedizin spielen.
Fünf Fragen an Reimer Riessen
DÄ: Herr Professor Riessen, viele Krankenhäuser in Deutschland müssen Intensivbetten sperren, weil es zu wenige Intensivpflegekräfte gibt. Wie ist das in Tübingen?
Reimer Riessen: Auf der Internistischen Intensivmedizin gibt es bei uns 21 Betten, davon 13 Intensivtherapieplätze und acht Intensivüberwachungsplätze. Zudem gibt es 16 ärztliche und 57 pflegerische Vollzeitstellen. Von den pflegerischen Vollzeitstellen waren zuletzt zeitweise nur 54 besetzt. Deshalb sind bei uns zurzeit zwei bis drei Betten gesperrt. Das hat auch Auswirkungen auf die Versorgung. Nicht selten gibt es sinnvolle Anfragen von auswärtigen Kliniken auf Übernahme eines komplexen Intensivpatienten, denen dann nicht entsprochen werden kann. Es tut einem weh, wenn wir diese Patienten nicht zeitnah übernehmen können.
DÄ: Welche Ursachen hat der Intensivpflegemangel?
Riessen: Das liegt sicherlich auch an den Arbeitsbedingungen. Man muss viel zu ungünstigen Zeiten arbeiten. Die Bezahlung ist nicht besonders gut, obwohl es eine sehr qualifizierte Arbeit ist. Und es gibt wenige Aufstiegsmöglichkeiten.
Es gibt allerdings nicht nur einen Mangel an Intensivpflegekräften, sondern auch einen Mangel an Intensivmedizinern. Das Problem ist vor allem, dass die meisten Krankenhäuser ihren Intensivmedizinern nicht genügend Zeit einräumen, sich ihren Leitungsaufgaben zu widmen oder sogar wissenschaftlich zu arbeiten, da viele Intensivstationen sehr knapp besetzt sind. Zudem haben viele internistische Intensivoberärzte noch andere Aufgaben in der Klinik, zum Beispiel im Herzkatheterlabor. Deshalb ist es oft nicht attraktiv, eine längere Karriere in der Intensivmedizin anzustreben.
Intensivmedizin: Intensivpflegemangel führt zu drohender Unterversorgung
In deutschen Krankenhäusern sind Bettensperrungen in der Intensivmedizin an der Tagesordnung, wie eine aktuelle Umfrage zeigt. Die Hauptursache dafür liegt im Intensivpflegemangel. Die Intensivmedizin nimmt in den deutschen Krankenhäusern medizinisch und wirtschaftlich eine immer tragendere Rolle ein.
DÄ: In seiner Qualitätssicherungsrichtlinie hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) festgelegt, dass zum Beispiel bei der Indikation Bauchaortenaneurysma 50 Prozent der Intensivpflegekräfte einer Station eine Fachweiterbildung im Bereich der Intensivpflege und Anästhesie haben müssen. In jeder Schicht muss dann eine dieser Pflegekräfte eingesetzt werden. Welche Erfahrungen haben Sie mit dieser Vorgabe gemacht?
Riessen: Es ist nicht nachvollziehbar, warum es bei dieser speziellen Indikation eine solch hohe Anforderung gibt, während dies bei schwerer erkrankten Patienten, zum Beispiel Patienten mit Multiorganversagen, nicht gefordert wird. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung prüft akribisch, ob die Krankenhäuser die Vorgaben des G-BA einhalten. Bei nur geringen Abweichungen wird selbst Universitätskliniken, die für diesen Eingriff ansonsten gut qualifiziert sind, die komplette Vergütung für diese Fälle aberkannt.
Dieses Vorgehen halte ich für falsch. Schließlich können manche Krankenhäuser die Vorgaben nur deshalb nicht einhalten, weil es auf dem Arbeitsmarkt nicht genügend Fachkräfte gibt. Wäre es denn besser, die Patienten gar nicht zu behandeln? Zudem haben die Krankenhäuser am Ende noch weniger Geld, um das benötigte Personal einzustellen, wenn ihnen die Vergütung von Leistungen aberkannt wird, die sie erbracht haben. Ich würde mir wünschen, dass strukturelle Qualitätskriterien für Intensivstationen differenzierter und konstruktiver entwickelt und eingeführt werden.
DÄ: Ab dem Jahr 2019 sollen Pflegepersonaluntergrenzen greifen. Wird das bei der Lösung des Problems helfen?
Riessen: Nein. Besser wäre es, das Leistungsspektrum einer Intensivstation genau zu erheben und auf dieser Basis das Personal zu errechnen, das auf der jeweiligen Versorgungsstufe, zum Beispiel bei einem Maximalversorger, vorgehalten werden sollte. Dieses Personal sollte dann außerhalb der DRG-Vergütung von den Krankenkassen finanziert werden. Unterschreitungen der Sollwerte könnten zu proportionalen Abschlägen führen.
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Um die Qualität der Intensivmedizin zu erhöhen, halte ich darüber hinaus Audits für sinnvoll, die sich am bislang freiwilligen Peer-Review-Verfahren in der Intensivmedizin orientieren. Zudem können auch gezielte finanzielle Anreize im DRG-System zu einer Qualitätsverbesserung führen. Heute ist es eher umgekehrt: Derzeit erwirtschaften Krankenhäuser, die mit geringem Personaleinsatz Intensivpatienten lange beatmen, mehr Ertrag als Krankenhäuser, die mit mehr Personaleinsatz kürzere Beatmungszeiten erreichen. Das kann nicht sein.
Wenn wir über die knapper werdenden Ressourcen in der Intensivmedizin sprechen, sollten wir allerdings ein anderes Thema auch ansprechen.
DÄ: Welches meinen Sie?
Riessen: Es geht um das Thema Therapiebegrenzungen in der Intensivmedizin. Oft ist es im Alltag so, dass wir kurzfristig entscheiden müssen, wie viel Intensivtherapie sinnvoll ist. Dann müssen wir entscheiden, ob wir einen multimorbiden Patienten mit deutlich eingeschränkter Lebenserwartung und Alltagsfunktionalität etwa noch mit einer maschinellen Beatmung behandeln und ob der Patient noch einen Nutzen von dieser Behandlung hat. Diese Entscheidung zu treffen, fällt nicht leicht, vor allem, wenn es bei nicht kommunikationsfähigen Patienten keine Informationen über den Patientenwillen gibt. Wir treffen sie dann gemeinsam mit den Angehörigen.
In Deutschland sollten wir solche Entscheidungen primär nach medizinischen und nicht nach ökonomischen Gesichtspunkten treffen können. Bei knapper werdenden Ressourcen müssen solche Fragen auch gesellschaftlich und politisch offener diskutiert werden. Es ist aber richtig, dass das Intensivbehandlungsteam, zusammen mit Patienten und Angehörigen, letztlich die individuelle Entscheidung trifft. Denn wer soll sie sonst treffen? Mitarbeiter einer Krankenkasse?
Ich wünsche mir allerdings, dass dieser Teil der intensivmedizinischen Arbeit mehr Aufmerksamkeit bekommt. Denn wir brauchen Zeit, um den Patientenwillen in Erfahrung bringen und diese wichtige Entscheidung treffen zu können. © fos/aerzteblatt.de

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