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Politik

Paragraf 219a: Ausschuss informiert sich bei Sachverständigen

Montag, 9. Juli 2018

/dpa

Berlin – Anhörungen im Bundestag können sehr sachorientiert sein – oder bei emotionaleren Themen schon einmal aus dem Ruder laufen. Fast wäre dies kürzlich im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz passiert. Auf der Tagesordnung stand die Anhörung von fünf Expertinnen und vier Experten, die zu den drei vorgelegten Gesetzentwürfen zur Abschaffung oder Reform des Paragrafen 219a (Verbot der Werbung für Schwangerschaftsabbruch) Stellung nehmen sollen. Die neun geladenen Sachverständigen bildeten in ihren Ausführungen die gesamte Breite der gesellschaft­lichen Debatte ab.

Daphne Hahn von pro familia warb intensiv dafür, den Paragrafen 219a abzuschaffen und bei der Gesetzgebung besonders die Auswirkungen auf die freie Arztwahl für Patientinnen, die Auswirkungen auf Ärztinnen und Ärzte zu bedenken sowie über die heuteigen Informationswege zu beachten. Katharina Jestaedt, stellvertretende Leiterin des Kommissariats der deutschen Bischöfe, sah dagegen keinen Handlungsbedarf. Sie erinnerte daran, dass eine Veränderung des Paragrafen 219a den gesellschaftlichen Kompromiss rund um den Schwangerschaftsabbruch (Paragraf 218 Strafgesetzbuch) gefährden könnte. Außerdem beklagte sie die manipulative Werbung im Internet und die Sorge, dass eine sachliche Information durch schlecht-gestaltete Webseiten nicht die Betroffenen erreichen könnte. Ebenso sieht sie die Rechtssicherheit der Ärzte nicht gefährdet.

Die Meinungen gehen auseinander

Michael Kiworr, Gynäkologe und Mitglied der Organisation „Ärzte für das Leben“, betonte in seinem Eingangsstatement die Bedeutung des Schutzes für das ungeborene Kind bei dieser Debatte. Aus seiner Sicht werden Werbung und Informationen bei diesem Thema zu häufig vermischt. Die notwendigen Informationen lägen bei den Beratungsstellen vor. Strafrechtler Michael Kubiciel von der Universität Augsburg sah ebenfalls keine Notwendigkeit der Streichung des Paragrafen. „Darauf weist keine juristische Literatur hin“, sagte er. Zur Verbesserung der Situation bei den Informationen zu den Ärzten, die eine Abtreibung durchführen,  könnte er sich eine Liste vorstellen, die bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vorliegt und an ungewollt Schwangere weitergibt.

Ganz anders bewertete Ulrike Lembke die rechtliche Situation: Die Jura-Professorin sprach sich für eine Streichung des Paragrafen 219a aus und einer Neuregelung der Bestrafung von „grob anstößiger Werbung“ als eine Ordnungswidrigkeit. Im Strafrecht sei der juristische Terminus „grob anstößig“ nur im Paragrafen 219a enthalten. Sie erklärte auch, dass der Paragraf 219a bereits 1974 entstanden sei, „also weit vor dem Internet“. Daher müsse der Paragraf an die heutige Zeit angepasst werden. Mit dem Paragrafen gäbe es auch einen „unzulässigen Eingriff in die Berufsfreiheit der Ärzte“, sie werden kriminalisiert, obwohl die im Beratungsmodell von 1995 eine zentrale Rolle vom Staat vorgeschrieben bekommen haben.

291a verfassungswidrig

Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie sowie Mitglied im Deutschen Ethikrat, zielte in seiner Argumentation in die ähnliche Richtung. Auch er sah den Paragrafen 219a als verfassungswidrig an. Vor allem der Fakt, dass Ärzte kriminalisiert werden, sei problematisch. „Es muss einem Arzt möglich sein, zu informieren. Der Arzt erfülle in dem ganzen Kompromiss eine Staatsaufgabe. Daher ist es verfassungswidrig, wenn Ärzte für das Übernehmen von Information in dieser Sache bestraft werden.“

In seiner schriftlichen Stellungnahme heißt es „Paragraf 219a bedroht auch schlichte Hinweise auf die Möglichkeit erlaubten Handelns, nämlich rechtmäßiger Schwanger­schaftsabbrüche, mit Strafe.“ Er plädierte dafür, den Tatbestand des Paragrafen deutlich transparenter zu machen. Damit könnte auch das „Informieren“ über den Schwangerschafts­abbruch in mehrere juristische „Tathandlungen“ kategorisiert werden: anbieten, ankündigen, anpreisen sowie bekanntgeben.

Die Vertreterin der Beratungseinrichtung donum vitae zur Förderung des Schutzes des menschlichen Lebens, Andrea Redding, sah keine Notwendigkeit, den Paragrafen 219a aufzuheben. Würde man den Paragrafen streichen, ändere man im derzeit gelebten Beratungsgeschehen die Dramaturgie. Der Verein sieht die Paragrafen 218 und 219 als „zusammenhängendes Schutzkonzept, das nicht durch die Streichung des Paragrafen 219a beschädigt werden darf.“ Durch die Werbung von Ärzten für einen Abbruch dürfe nicht der Eindruck entstehen, „als wären es ganz normal medizinische Dienst­leistungen.“ Allerdings beklagte Redding die Informationen über Ärzte, die es für Beratungsstellen gibt. Oftmals würden die Beraterinnen nicht informiert, wenn eine Praxis schließe. Daher sollte es eine einheitliche Stelle geben, die über Ärzte informiert.

Abbrüche Normalität

Deutlich anders bewertete die Gynäkologin Christine Tennhardt aus Berlin die Situation. Sie erklärte, dass Schwangerschaftsabbrüche inzwischen Normalität seien. „Jede vierte Frau hatte einen Abbruch.“ Gleichzeitig habe Deutschland eine der niedrigsten Abbruchzahlen in Europa, Ärzte hätten keinen finanziellen Anreiz, einen Abbruch durchzuführen, da die Kostenübernahme geklärt seien. „Was macht diese Gesetzgebung mit uns Frauenärztinnen und Ärzten?“, fragte sie in der Anhörung. „Wir stehen immer mit einem Beim im Gefängnis.“ Da es zusätzlich kaum Weiterbildung und keine ärztlichen Standards gebe, würden viele junge Gynäkologinnen dies nicht mehr lernen.

Thomas Weigend, Rechtswissenschaftler von der Universität Köln, betonte in der Runde, dass der Paragraf 219a in seiner Auslegung zum Werbeverbot deutlich zu weit gehe. Auch bei dem Argument, der Paragraf sei Teil einer komplexen Gesetzes­architektur, wandte er ein, dieser sei schon vor dem Kompromiss 1993 vorhanden gewesen. Daher wirbt er dafür, neutrale Informationen über Schwangerschaftsabbrüche straflos zu stellen und beim Strafmaß eine deutlichere Differenzierung zwischen Werbung für strafbaren und straflosen Abbruch einzuführen. Diese Haltung entspreche auch dem Gesetzesvorschlag der FDP-Bundestagsfraktion.

Nach zwei Stunden, mehreren Fragerunden der Abgeordneten aller Fraktionen, wurde die Anhörung unruhig. Besonders die Sachverständige Tennhardt bekam viel Applaus von der Zuschauertribüne – was nach den Regeln des Bundestages in der Form nicht zulässig ist. Der Ausschussvorsitzende, Stephan Brandner (AfD), ermahnte die meist jungen Zuhörerinnen, diesen „Affenzirkus“ zu unterlassen. In Folge dessen kam es zu weiteren Störungen: So standen Aktivistinnen eines Aktionsbündnisses zur Abschaffung des Paragrafen von ihren Plätzen auf, trugen weiße Aktions-T-Shirts und protestierten stumm für die Abschaffung. Sie wurden von dem Saal-Personal von der Tribüne verwiesen, ihnen wurde mit einer Anzeige gedroht.

Danach stellte Brandner fest, dass von der Tribüne aufgenommene Fotos beim Kurznachrichtendienst Twitter erschienen waren. Auch das Fotografieren ist Besuchern von öffentlichen Anhörungen im Bundestag nicht erlaubt. Daraufhin wollte er die komplette Tribüne räumen lassen – dies hätte neben den Aktivistinnen auch die Medienvertreter betroffen. In einer Sitzungsunterbrechung verhinderten dies offenbar Vertreter der anderen Parteien im Bundestag. Auch nach der kurzen Pause beruhigte sich die Szenerie kaum, Abgeordnete fragten immer emotionaler nach, einzelne Sachverständige mussten ihre Antworten unterbrechen, um die Heimfahrt antreten zu können. Als erneut bei den Aussagen der Ärztin Tennhardt viel Applaus von den Zuschauerplätzen kam, bezeichnete Ausschussvorsitzender Brandner das Publikum als „beschränkt denkende Leute.“

Ohne ein weiteres Fazit wurde die Sitzung nach drei Stunden beendet. Die Fraktionen, allen voran die SPD, wollen sich nun in der parlamentarischen Sommerpause über die Ergebnisse der Anhörung austauschen und im Herbst erneut zu den Gesetzesentwürfen beraten. Bis dahin wird auch ein Kompromissvorschlag aus dem Hause der Bundesjustiz­ministerin Katharina Barley (SPD) erwartet, die gemeinsam mit Kanzleramtschef Helge Braun (CDU), Bundesfamilienministern Franziska Giffey (SPD) sowie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen Kompromiss aushandeln soll. © bee/aerzteblatt.de

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