ThemenAllgemeinmedizinHbA1c-Messung kann den oralen Glukosetoleranztest zur Diagnose des Gestationsdiabetes nicht ersetzen
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Im Jahr 2020 hat die Corona-Pandemie das Leben aller Menschen nachhaltig beeinflusst. Der Schutz vulnerabler Patientengruppen vor Covid-19 stellt im medizinischen Alltag eine Herausforderung dar. Zur besonders schützenswerten Gruppe gehören Schwangere (1). Zwischen der 24. und 28. Schwangerschaftswoche werden sie auf Gestationsdiabetes mellitus (GDM) untersucht und erhalten gegebenenfalls einen diagnostischen oralen Glukosetoleranztest (OGTT) mit 75 g Glukose (2). Um dieses Prozedere während der Pandemie zu vereinfachen, überprüften Meek und Koautoren anstelle des diagnostischen 2 h OGTT mit 75 g Glukose eine alternative Teststrategie (3). In drei britischen Kohorten wurde untersucht, ob die Bestimmung des Nüchternblutzuckers oder eine Bestimmung des HbA1c am Ende des zweiten/Anfang des dritten Trimenons geeignet ist, Frauen mit einem Risiko für einen ungünstigen Schwangerschaftsausgang zu identifizieren. Die Autoren schlagen für die 28. Schwangerschaftswoche einen HbA1c-Grenzwert von 39 mmol/moL (5,72 %) vor, um einen GDM zu entdecken. Wir haben die Übertragbarkeit dieses Vorgehens für die Versorgung von Schwangeren in Deutschland untersucht.

Methoden

Hierzu haben wir die vorgeschlagene Teststrategie an Teilnehmerinnen der laufenden Deutschen Studie Gestationsdiabetes geprüft (PREG-Studie, ClinicalTrials.gov Identifier NCT04270578). In dieser Studie erhalten Schwangere zwischen der 24 + 0 und 31 + 6 Schwangerschaftswoche einen 2 h OGTT mit 75 g Glukose. Die venöse Plasma-Glukosekonzentration wird nüchtern sowie 1 und 2 h nach Glukoseaufnahme qualitätskontrolliert gemessen und der HbA1c mittels HPLC bestimmt. Ein GDM wird nach den IADPSG-Konsensusempfehlungen (4) diagnostiziert, die in der deutschen Leitlinie GDM (2) übernommen wurden. Bei Überschreiten von mindestens einem der drei Blutzuckerwerte ist die GDM-Diagnose gestellt (Tabelle 1). Zusätzlich zur Erhebung von anthropometrischen Daten in der Schwangerschaft werden Daten zum Schwangerschaftsausgang erfasst. Bei Diagnose eines GDM werden die Frauen bis zur Entbindung leitliniengerecht behandelt (2). Die PREG-Studie wurde von der Ethikkommission der Universität Tübingen zustimmend beurteilt.

Blutglukose-Grenzwerte zur Diagnosestellung eines Gestationsdiabetes mellitus mittels 75 g oralem Glukosetoleranztest
Tabelle 1
Blutglukose-Grenzwerte zur Diagnosestellung eines Gestationsdiabetes mellitus mittels 75 g oralem Glukosetoleranztest

Ergebnisse

Unter 440 Schwangerschaften wurden 118 GDM-Fälle diagnostiziert. Bei Anwendung des von Meek et al. vorgeschlagenen HbA1c-Cutoffs von 39 mmol/moL (5,72 %) wird der GDM bei 12 Frauen erkannt (Tabelle 2). Bei 106 Frauen wird der GDM nach diesem Kriterium nicht diagnostiziert. Acht der Frauen mit normalem Zuckerstoffwechsel hatten einen HbA1c über diesem Grenzwert. Somit liegt die Spezifität des vorgeschlagenen HbA1c-Grenzwertes bei 97,5 %, die Sensitivität jedoch nur bei 10,2 %. Die Anwendung eines niedrigeren Grenzwertes von 32 mmol/moL könnte die Sensitivität auf 78 % erhöhen, jedoch liegt dabei die Spezifität nur noch bei 51,2 %. Bei Anwendung der etwas anderen britischen NICE-Kriterien zur Beurteilung des OGTTs hätten 104 Frauen eine GDM-Diagnose (statt 118). Von diesen haben lediglich 8 einen HbA1c über 39 mmol/moL. Im Vergleich zu Frauen mit GDM und mit niedrigem HbA1c hatten solche mit einem HbA1c > 39 mmol/moL eine um 0,5 mmol/L (± 0,04) erhöhte Nüchternglukose, während die Werte nach oraler Glukoseaufnahme vergleichbar waren. Die beiden Gruppen unterschieden sich außerdem in anthropometrischen Parametern der Mutter (Tabelle 2).

Charakteristika der Schwangeren und Neugeborenen
Tabelle 2
Charakteristika der Schwangeren und Neugeborenen

Bei den Schwangeren mit niedrigem HbA1c hatten solche mit GDM nicht nur höhere Blutzuckerwerte vor und während des OGTTs, sondern waren auch älter und schwerer. Obgleich der HbA1c dieser Frauen mit GDM immer noch unter dem von Meek et al. vorgeschlagenen Grenzwert lag, war ihr HbA1c höher als bei Frauen mit normalem Zuckerstoffwechsel (Tabelle 2).

Trotzdem konnte durch die gute Behandlung nach Diagnosestellung bei Kindern von Frauen mit GDM ein normales Geburtsgewicht erreicht werden.

Diskussion

Unsere Analyse zeigt, dass im 2. beziehungsweise 3. Trimenon ein HbA1c über 39 mmol/moL (5,72 %) nicht geeignet ist, einen GDM zu diagnostizieren. Die meisten Patientinnen mit GDM (89,8 %) wären mit dieser Methode übersehen und nicht behandelt worden. Selbst bei Anwendung eines niedrigeren HbA1c-Grenzwertes (32 mmol/moL) würde etwa ein Fünftel der GDM-Fälle unerkannt bleiben.

Die Anwendung des HbA1c-Grenzwertes identifiziert vor allem Schwangere mit erhöhtem Nüchternblutzucker, während Frauen mit hohen postprandialen Glukose-Auslenkungen aber noch normalem Nüchternblutzucker häufig übersehen werden. Gerade diese hohen Blutzuckerspitzen verursachen beim Feten eine übermäßige Insulinsekretion, die für ein gesteigertes fetales Wachstum verantwortlich gemacht wird. Die aktuellen Empfehlungen zum Screening auf GDM beruhen hauptsächlich auf der „Hyperglycemia and adverse pregnancy outcome“(HAPO)-Studie (5). Durch Untersuchung von über 23 000 Teilnehmerinnen wurde festgestellt, dass bereits moderat erhöhte Blutzuckerwerte mit einem deutlich erhöhten Risiko für Makrosomie, neonatale Hypoglykämie und Entbindung per Sectio assoziiert sind. Entsprechend kann die konsequente Behandlung von Frauen mit nur mäßig erhöhten Blutglukosespiegeln die Häufigkeit dieser Komplikationen reduzieren.

Schlussfolgerung

Auch wenn eine alternative, kontaktarme Teststrategie während der Pandemie wünschenswert wäre, darf sie nicht zu Lasten der längerfristigen Gesundheit von Mutter und Kind gehen. Die alleinige Bestimmung des HbA1c im 2. oder 3. Trimenon kann den oralen Glukosetoleranztest zur Diagnose eines GDM nicht ersetzen. Nach wie vor stellt ein diagnostischer OGTT die zuverlässigste Methode dar, um betroffene Patientinnen zu identifizieren und so eine rechtzeitige optimale Behandlung anzustoßen.

Danksagung
Wir danken allen Teilnehmerinnen der PREG-Studie und dem gesamten Studienteam.

Diese Studie wurde zum Teil finanziert durch das Deutsche Zentrum für Diabetesforschung (DZD), gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und durch die Deutsche Diabetes Gesellschaft/Deutsche Diabetes Stiftung (Förderkennzeichen 380/02/16).

Louise Fritsche, Andreas Peter, Julia Hummel, Robert Wagner, Hans-Ulrich Häring, Andreas L. Birkenfeld, Andreas Fritsche, Martin Heni

Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen des Helmholtz Zentrums München an der Universität Tübingen
(Fritsche L, Peter A, Hummel J, Wagner R, Häring HU, Birkenfeld AL, Fritsche A,
Heni M), louise.fritsche@med.uni-tuebingen.de

Deutsches Zentrum für Diabetesforschung (DZD), Neuherberg (Fritsche L, Peter A, Hummel J, Wagner R, Häring HU, Birkenfeld AL, Fritsche A, Heni M)

Institut für Klinische Chemie und Pathobiochemie, Universitätsklinikum Tübingen
(Peter A, Heni M)

Medizinische Klinik, Abteilung für Diabetologie, Endokrinologie und Nephrologie, Universitätsklinikum Tübingen (Wagner R, Häring HU, Birkenfeld AL, Fritsche A, Heni M)

Interessenkonflikt
A. Fritsche wurde für Beratertätigkeit von Sanofi, Novo Nordisk, Astra Zeneca und Boehringer Ingelheim honoriert.

M. Heni erhielt Honorare für eine Beratertätigkeit von Boehringer Ingelheim. Für Vortragstätigkeit wurde er honoriert von MSD, Novo Nordisk, Sanofi, Lilly und Boehringer Ingelheim. Erstattung für Reise- und Übernachtungskosten wurden ihm zuteil von MSD, Novo Nordisk, Sanofi, Lilly und Boehringer Ingelheim. Für von ihm initiierte Forschungsvorhaben erhielt er Unterstützung von Boehringer Ingelheim und Sanofi.

L. Fritsche, A. Peter, J. Hummel, H.-U. Häring, A. L. Birkenfeld und R. Wagner geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 22. 12. 2020, revidierte Fassung angenommen: 18. 2. 2021

Zitierweise
Fritsche L, Peter A, Hummel J, Wagner R, Häring HU, Birkenfeld AL, Fritsche A, Heni M: HbA1c measurement cannot replace an oral glucose tolerance test for the diagnosis of gestational diabetes. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 432– 3. DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0159

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Kleinwechter H, Scherbaum WA: Addendum zu: Diabetes und Schwangerschaft – Update 2020. Diabetologe 2020; 16: 595–600 CrossRef
2.
Schäfer-Graf U, Laubner K, Hummel S, u. a.: Gestationsdiabetes mellitus (GDM), Diagnostik, Therapie und Nachsorge: Praxisempfehlung – Kurzfassung der S3-Leitlinie (AWMF-Registernummer: 057–008). Diabetologie und Stoffwechsel 2019; 14: 196–206 CrossRef
3.
Meek CL, Lindsay RS, Scott EM, et al.: Approaches to screening for hyperglycaemia in pregnant women during and after the COVID-19 pandemic. Diabetic Medicine n/a: e14380.
4.
Panel IA of D and PSGC: International Association of Diabetes and Pregnancy Study Groups recommendations on the diagnosis and classification of hyperglycemia in pregnancy. Diabetes Care 2010; 33: 676–82 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5.
The HAPO Study Cooperative Research Group: Hyperglycemia and adverse pregnancy outcomes. N Engl J Med 2008; 358: 1991–2002 CrossRef MEDLINE
Blutglukose-Grenzwerte zur Diagnosestellung eines Gestationsdiabetes mellitus mittels 75 g oralem Glukosetoleranztest
Tabelle 1
Blutglukose-Grenzwerte zur Diagnosestellung eines Gestationsdiabetes mellitus mittels 75 g oralem Glukosetoleranztest
Charakteristika der Schwangeren und Neugeborenen
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1.Kleinwechter H, Scherbaum WA: Addendum zu: Diabetes und Schwangerschaft – Update 2020. Diabetologe 2020; 16: 595–600 CrossRef
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