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Berlin – In den Seniorenpflegeheimen in Deutschland sind mehr als 100.000 Pflegekräfte zusätzlich notwendig, um die hohe Arbeitsbelastung zu senken und eine angemessene Betreuung zu gewährleisten. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten der Universität Bremen im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums.
Darin haben die Experten erstmals auf wissenschaftlicher Basis den in Pflegeheimen erforderlichen Personalschlüssel berechnet. Danach muss die Zahl der Pflegekräfte um 36 Prozent erhöht werden, von jetzt rund 320.000 auf dann knapp 440.000. Die Kosten für dieses zusätzliche Personal würden sich auf jährlich rund vier Milliarden Euro belaufen.
In dem Gutachten der Experten um den Pflegewissenschaftler Heinz Rothgang heißt es, die Mehrheit des Pflegepersonals sei überlastet. Das führe nicht nur zu einem erhöhten Krankenstand, sondern auch zu mehr Teilzeitarbeit und einem frühen Ausstieg aus dem Beruf. Die ungünstigen Arbeitsbedingungen sorgten zudem für eine schlechtere Pflegequalität.
Um angesichts der weiter steigenden Zahl von Pflegebedürftigen den wachsenden Fachkräftebedarf zu decken, müssten die Arbeitsbedingungen in der Heimpflege deutlich verbessert werden. Wichtigstes Instrument dafür sei eine Anhebung der Pflegeschlüssel, um die Zahl der Beschäftigten pro pflegebedürftige Person zu erhöhen, heißt es in dem Gutachten.
Vorgeschlagen wird, dass eine Pflegekraft künftig rechnerisch im Schnitt 1,8 Pflegebedürftige betreuen soll. Bisher beträgt die Quote 1 zu 2,5. Bezogen auf ein Heim mit 100 Bewohnern heißt das, dass diese von 55 statt wie bisher von 40 Pflegekräfte betreut werden sollen.
Darüber hinaus sollen dem Vorschlag nach Pflegehilfskräfte vermehrt solche Aufgaben von Pflegefachkräften übernehmen, für die diese derzeit eigentlich überqualifiziert sind. So hätten die Pflegefachkräfte mehr Zeit für die komplexeren Tätigkeiten.
GKV-Spitzenverband und Pflegeheime zufrieden
„Mit dem vorliegenden Entwurf haben wir erstmals ein mögliches Personalbemessungsinstrument vorliegen, um den Bedarf an Fach- und Assistenzpflegekräften in einzelnen Pflegeheimen zu bemessen“, sagte Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes. Er sprach von einem großen Fortschritt, „um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in den einzelnen Einrichtungen weiter umzusetzen“.
„Endlich können wir sagen, welcher Personaleinsatz in stationären Pflegeeinrichtungen notwendig ist, um gleichwertigere Pflege- und Lebensbedingungen für Pflegebedürftige zu schaffen“, sagte Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland.
Im Instrument steckten Vorschläge, um dem Personalmangel mit einer anderen Aufteilung der Aufgaben und mehr Fachlichkeit für alle Beteiligten zu begegnen. Die notwendige Umsetzung sei nun auch von konkreten Schritten und Erfolgen in anderen Bereichen abhängig.
Für Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), zeigt die Studie, welche personellen Rahmenbedingungen hilfreich sind, damit bei einer absehbar steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen möglichst vielen ein verlässliches professionelles Angebot gemacht werden könne.
„Jetzt sind die Landessozialministerien am Zug, die eine verlässliche wissenschaftliche Grundlage bekommen, um erste Schritte zur Weiterentwicklung einer starren Fachkraftquote zu gehen, die bei insgesamt steigender Personalausstattung zu einem an Pflegegraden ausgerichteten Verhältnis von Fachkräften zu Assistenzkräften führen“, sagte er. Die Tendenz sei einfach: „Je höher der Pflegegrad, desto umfangreicher sind auch die Anforderungen an die Qualifikation.“
„Wer die angespannte Personalsituation in der Altenpflege verbessern will, hat nur eine Option: Wir müssen die Vergeudung von Fachkompetenz schnell stoppen“, sagte Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbandes Pflege.
Jeden Tag machten Fachkräfte, die für die medizinische Behandlungspflege drei Jahre sehr qualifiziert ausgebildet wurden, einfache Tätigkeiten, wie alte Menschen waschen, Hilfe beim Toilettengang oder Unterstützung geben beim Essen. In mehr als 14.000 Altenheimen dürften diese einfachen Tätigkeiten zukünftig ausschließlich von qualifizierten Hilfskräften und Assistenzkräften erbracht werden.
Durch die Neuorganisation habe man „viel mehr Fachkraftkompetenz zur Verfügung“. Die Fachkräfte konzentrieren sich künftig auf ihr Kerngeschäft. Zusätzliche Hilfskräfte können schnell gefunden werden.
Kritik von der Opposition
Die Grünen betonten hingegen, eine hohe Pflegequalität bedinge eine angemessene Personalausstattung, damit das Pflegepersonal entsprechend seiner Qualifikation arbeiten könne. „Wir müssen aufpassen, dass anspruchsvolle Fachpflege nicht an Hilfspersonal ausgelagert wird“, mahnte Kordula Schulz-Asche, Sprecherin für Pflegepolitik der Grünen.
Das Bundesgesundheitsministerium wäre gut beraten, nicht am Reißbrett über eine Neuaufteilung der Tätigkeiten zu befinden, sondern in der Umsetzung auch auf die fachkundige Expertise vor allem der Pflegekammern als pflegerische Selbstverwaltungsorgane zurückzugreifen. Zugleich stelle sich die Frage, wo die Pflegekräfte herkommen sollten.
Die Linken betonten, die Vorschläge brächten keine nachhaltige Verbesserung der Bedingungen – weder für die Menschen mit Pflegebedarf, noch für die Beschäftigten. Das vorgeschlagene Modell sei eine Abkehr von der Bezugspflege, bei der die Bedürfnisse und der Bedarf der Bewohner im Mittelpunkt stehe, sagte Pia Zimmermann, Linken-Sprecherin für Pflegepolitik. „Das ist keine neutrale Ermittlung des Bedarfs. Es droht die Kapitulation vor den Zuständen“. © kna/may/aerzteblatt.de
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